Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
Kristall.
Ein unvorstellbarer Schmerz schien mir das Gehirn auszubrennen.
Dann zersplitterte die Welt um mich herum in einem Kaleidoskop wild durcheinander wirbelnder Farben und Formen.
Die Stille des Todes hatte sich über die Halle ausgebreitet und wurde nur unterbrochen vom Stöhnen der Verletzten.
Mit unbewegtem Gesicht, dem sich nicht ablesen ließ, welche Hölle in seinem Inneren tobte, näherte sich Zengsu dem Portal. Er bemühte sich die toten Sree zu seinen Füßen nicht anzusehen. Es mussten mehr als hundert sein – und noch einmal mindestens die gleiche Zahl an Verletzten.
Hundert Sree, die gestorben waren, weil Mereda es nicht erwarten konnte, endlich die Macht an sich zu reißen. Aber sie würde dafür bezahlen, teuer bezahlen, das schwor Zengsu sich.
Zusammen mit Madur folgte die Hexe ihm mit gemessenem Schritt. Zengsu wich den fragenden und unsicheren Blicken der Sree aus. Er konnte sich vorstellen, was in ihnen vorging und wie sie über Mereda dachten. In ihren Augen musste er wie ein Verräter dastehen, mit zwei der verhassten Inguré gemeinsame Sache zu machen. Aber das würde sich ändern, sobald sie den Ancen-Turm erobert hatten.
Keiner der Verteidiger war mehr am Leben. In ihrer Verbitterung über die heftige Gegenwehr hatten die Sree keine Gefangenen mehr gemacht und selbst die Verletzten getötet. Die provisorische Barriere war zur Seite geräumt worden.
Vor dem Portal blieb Zengsu stehen. Wie nicht anders zu erwarten, war es von innen verriegelt. Er hob die Hände und presste sie gegen das Schloss. Bläuliche Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und liefen wie bizarre Schlangen über das Holz. Ein gewaltiges Krachen ertönte, dann wölbten sich die schweren Flügel nach innen. Sie brachen aus den Angeln und stürzten ins Innere des Saales.
»Tötet sie!«, befahl Zengsu und deutete auf die Adepten, die in eine Beschwörung versunken auf dem Boden des Saales hockten.
Die Sree-Pfeile schwirrten wie ein Schwarm giftiger Insekten auf den Magierkreis zu – und sie waren mit einer Präzision gezielt, derer nur Wesen fähig waren, die ihr Lebtag nichts anderes taten, als sich im Umgang mit Waffen zu üben. Die meisten der jugendlichen Magier und Hexen brachen auf der Stelle zusammen. Nur Aneh besaß trotz des Pfeiles, der aus ihrer Brust ragte, noch die Kraft aufzuspringen und sich zu den Angreifern umzuwenden. Ihre Augen glühten, aber es war keine Angst darin zu sehen, sondern nur eine Bestürzung und Verachtung, die Zengsu erschaudern ließ.
»Ihr Narren, ihr ahnt ja nicht, was ihr anrichtet!«, schrie sie. Anklagend deutete sie auf Mereda und Zengsu. »Ihr habt euch von falschen Propheten blenden lassen, die euch nicht die Freiheit bringen, sondern nur ihre eigene Herrschaft errichten wollen. Damit habt ihr den Tod des einzigen wahren Befreiers, der diesem Tal den Frieden bringen könnte, verschuldet. Tod und Vernichtung werden eure Begleiter sein, für die kurze Zeit, die euer Volk noch existiert, bis der Ancen-Dämon euch alle in den Untergang reißen wird!«
Die meisten Angreifer erstarrten, als sie den Fluch der Hexe vernahmen. Dumpfes Murmeln ging durch die Reihen der Sree; niemand wagte es mehr, die Hand gegen die Kreisversteherin zu erheben, die wie ein zum Leben erwachter Racheengel mit beschwörend erhobenen Armen in der Mitte des Saales stand. Einige Sree wandten sich sogar zur Flucht.
Zengsu erkannte, dass er sofort handeln musste, wenn er das Ruder noch einmal herumreißen wollte. Er riss einem neben ihm stehenden Sree den Bogen aus der Hand, legte einen Pfeil auf die Sehne und schoss ohne zu zielen. Er traf Aneh am Hals. Ohne einen Laut brach sie zusammen; die Hände noch im Tode anklagend in Richtung ihres Mörders ausgestreckt.
»Lasst euch von ihr nicht beirren, Brüder«, rief er. »Seht, sie stirbt nicht anders wie die anderen. Die Macht der Inguré ist gebrochen.«
»Ja, wir sind frei«, dröhnte Uschams Stimme mit sonderbarer Betonung durch den Beschwörungssaal. »Doch welchen Preis werden wir dafür zu zahlen haben?« Er trat auf Zengsu zu. »Sprich, was wird nun geschehen?«
Zengsu erstarrte. Diese unerwartete Attacke des alten Sree zwang ihn früher als geplant zum Handeln. Die nächsten Worte würden sein weiteres Schicksal entscheiden. Er ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter seiner Anhänger gleiten.
»Hört mich an, Brüder. Wir alle wollten die Freiheit. Doch Freiheit und wahrer Frieden bedeuten auch, uns mit denen zu
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