Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
»Zengsu, was …«, keuchte sie und brach ab, als die Gestalt ihr mit einer herrischen Geste zu schweigen bedeutete. Mit kraftvollen Schritten kam der Mann auf mich zu.
»Ich bin Naalas, der Meistermagier von Maronar«, hallte seine Stimme durch den Saal. »Jahrmillionen irrte meine Seele von einem Körper zum anderen, ohne dass ich mir meiner selbst bewusst wurde, denn ich war immer noch eins mit dem Thul Saduun. Erst durch KYRs Manipulationen wurde ich frei, um das damals begonnene Werk endlich zu vollenden. Gib mir den Kristall, Robert Craven!«
Immer noch hatte ich mich von der Überraschung nicht ganz erholt, dafür war alles zu schnell gegangen. Fassungslos starrte ich den Meistermagier an. Es schien doch noch so etwas wie Wunder in letzter Sekunde zu geben. Ich streckte die Hände aus, um ihm den Kristall zu überreichen, als mich ein Aufschrei zusammenzucken ließ.
»Nicht, Robert, eine Täuschung! Sie sind immer noch eins!«
Die ganze Zeit über hatte ich nicht mehr auf Sill geachtet. Mein Versuch, sie zu beeinflussen, musste doch Erfolg gehabt haben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wand sie sich auf dem Boden.
Blitzartige Visionen stürmten auf mich ein. Noch einmal sah ich, was ich bei dem geistigen Angriff des Thul Saduun wahrgenommen hatte. Geistige Kraftlinien, die von dem Tor ausgingen, es mit Sill verbanden, aber auch eine Linie, die sich irgendwo jenseits des Portals verloren hatte, und ich sah den flimmernden magischen Strahl, der bis zu der Kuppel hinaufreichte.
Der Regen, den es nicht geben dürfte und der nichts anderes war als das Wasser des Ozeans, das durch die porös gewordene Kuppel hereindrang …
Der sich im gleichen Maße erwärmende Kristall, wie die Kuppel an Kraft nachließ …
Das unverhoffte Auftauchen Naalas’, als ich mich gerade wieder aus dem Bann des Thul Saduun gelöst hatte – alles formte sich mit einem Mal zu einem klaren Bild.
Und ich wusste, was ich zu tun hatte!
Der Dämon sollte den Kristall bekommen, aber anders, als er geplant hatte. So kräftig ich konnte, schleuderte ich ihn auf das Tor zu und warf mich im gleichen Augenblick zur Seite.
Ein unerträglich hoher Schrei drang an meine Ohren. Sobald der Kristall das Tor berührte, stabilisierte es sich vollends. Für einen Sekundenbruchteil sah ich den Thul Saduun so, wie er wirklich war. Eine gigantische, zyklopische Gestalt, deren Gesicht von einem faustgroßen blinden Auge ausgefüllt wurde, unter dem ein scharfkantiger Papageienschnabel hervorragte. Aus dem oberen Teil des grotesk verzerrten Rumpfes wuchsen Dutzende sich windender, peitschendünner Tentakel hervor, wie die Adern aus einem ins Riesenhafte vergrößerten Herzen.
Es sah aus, als würde sich das Tor aufblähen, um den Thul Saduun herum neu erstehen und ihn verschlingen. Es begann zu flackern, dann schoss ein greller Blitz aus seinem Zentrum hervor. Für Mereda, die sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt hatte, kam alles zu plötzlich. Der Blitz traf sie und verbrannte sie binnen eines Sekundenbruchteils zu Asche, zuckte weiter und hüllte die Gestalt des Meistermagiers in flammende Helligkeit.
Als die Glutlohe in sich zusammenfiel, war Naalas verschwunden.
Mein Blick irrte zum Fenster. Außerhalb des Turmes hatte es zu regnen aufgehört; die magische Kuppel hatte sich stabilisiert. Der Kristall war von dem Tor wieder ausgespien worden und pulsierte ruhig und gleichmäßig in seinem bläulichen Licht. Ich hob ihn hoch, legte ihn nach kurzem Zögern aber wieder auf den Boden zurück. Bestimmt hätte er mir noch wertvolle Dienste leisten können, doch ihn mitzunehmen hätte bedeutet, die Kuppel endgültig zusammenbrechen zu lassen. Das war eine Verantwortung, die ich nicht auf mich laden konnte. Dafür nahm ich einem der Krieger, die mich hergeschleift hatten und durch den magischen Blitz betäubt worden waren, meinen Stockdegen ab, den er freundlicherweise mitgebracht hatte.
Vieles würde sich im Verlauf der nächsten Monate und Jahre hier ändern. Die beiden Magierkreise waren ausgelöscht und die Sree hatten die Macht übernommen. Möglicherweise würde es jetzt für sie und die Menschen gleichermaßen eine friedlichere Zukunft geben. Ich würde es nicht mehr erleben.
Ich trat auf Sill zu, die das Bewusstsein verloren hatte, und nahm sie wie ein Kind auf die Arme. Immer noch flackerte das Tor unruhig und es konnte nur noch Minuten dauern, bis es zusammenbrach. Aber noch besaß es ausreichend Kraft.
Von allem, was mit
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