Hexer-Edition 20: Hochzeit mit dem Tod
diesem Moment fiel Howards Blick in den Spiegel.
Er sah das Zimmer, spiegelverkehrt, aber in jeder noch so kleinen Einzelheit abgebildet.
Sich selbst, reglos und in fast grotesk anmutender Haltung erstarrt.
Und Priscylla, die halb über ihn gebeugt dastand, nur in ein dünnes Negligé gehüllt, sodass er ihren Körper darunter deutlich erkennen konnte.
Und als er es tat, begann er zu schreien.
Aber nicht lange.
Priscyllas (Priscyllas???) Lippen pressten sich auf seinen Mund und erstickten seinen Schrei, während ihre Hände fortfuhren seine Weste aufzuknöpfen, dann das Hemd …
Der-der-hinter-den-Schatten-wandelt war nahe. Sie konnte ihn nicht sehen, so wenig, wie irgendjemand seit Anbeginn der Zeit ihn jemals gesehen hatte, aber sie spürte ihn, seine Nähe, die die Wirklichkeit um sie herum wie ein unsichtbarer Pesthauch vergiftete, und sie wusste, dass ein Entkommen unmöglich war. Nicht einmal der UNAUSSPRECHLICHE vermochte sie zu schützen, auf Dauer. Irgendwann würde er sie stellen. Vielleicht in der nächsten Sekunde, vielleicht erst in tausend oder auch hunderttausend Jahren, aber er würde sie stellen. Niemand entkam ihm, auf dessen Spur er sich einmal gesetzt hatte.
Shadow verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe. Ihr Schicksal spielte keine Rolle. Jetzt nicht mehr. Wenn sie versagte, war es um diese Welt geschehen.
Und um Robert Craven.
GEH!, wisperte die Stimme des UNAUSSPRECHLICHEN in ihren Gedanken. DEINE ZEIT IST KNAPP BEMESSEN.
Shadow nickte; eine durch und durch menschliche Geste, die sie ausführte, ohne sich ihr wirklich bewusst zu sein. So wie sie vieles von den Menschen übernommen hatte, das ihrem Volk vorher fremd und unverständlich, vielleicht sinnlos, vorgekommen war.
Vielleicht war sie sogar schon zu einem Menschen geworden, ohne es zu merken.
Einen Moment lang blickte sie noch in die Richtung, in der der Schatten des UNAUSSPRECHLICHEN gestanden hatte, dann trat sie mit einem einzigen Schritt hinaus in die Wirklichkeit und wurde zum Menschen.
Es war noch sehr früh. Die Nacht lag noch wie ein schwarzes Leichentuch über der Stadt und sie hatte diesen Ort ganz bewusst gewählt, weil hier niemand nach dem Woher und Wohin eines Menschen fragte: eine schmale Straße in einem heruntergekommenen Viertel Londons, halb von Unrat übersät und wohl mehr von Ratten und anderem Ungeziefer bewohnt als von Menschen.
Selbst wenn jemandem aufgefallen wäre, dass die schlanke, goldhaarige junge Frau, die plötzlich auf der Straße stand, vor einem Sekundenbruchteil noch nicht dagewesen war, wäre das gleich.
Aber es war niemandem aufgefallen.
So wenig, wie sie irgendjemandem auffiel, als sie sich nach einem letzten, sekundenlangen Zögern umwandte und sich nach Süden wandte, dem Stadtzentrum zu.
Ich hörte den Schrei, als ich auf der untersten Treppenstufe war. Im ersten Moment war ich mir nicht einmal sicher, mich nicht getäuscht zu haben, denn ein Haus von dieser Größe ist niemals wirklich still, nicht einmal um fünf Uhr morgens.
Aber dann erscholl er erneut, deutlicher und weitaus lauter jetzt – und diesmal erkannte ich die Stimme.
Priscyllas Stimme!
Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich. Es war Priscylla, die da schrie, und sie schrie nicht in der Art einer Frau, die sich vor einer Maus oder einer Spinne erschrak.
Sondern in panischer Angst.
Wie von Sinnen fuhr ich herum und raste die Treppe wieder hinauf.
Der Schrei erscholl zum dritten Mal – und noch lauter – als ich den Treppenabsatz erreichte. Unter mir flogen Türen auf, die bewiesen, dass ich den Schrei nicht als Einziger gehört oder mir gar eingebildet hatte, und als ich die Treppe zu Priscyllas Junggesellinnenwohnung unter dem Dach in Angriff nahm, hörte ich Rowlfs schwere Schritte die Treppe hinaufpoltern.
»Priscylla!«, schrie ich. »Halte aus! Ich komme!«
Wie zur Antwort erscholl der gellende Schrei zum dritten Mal. Ich rannte noch schneller, nahm jetzt drei, manchmal vier Stufen auf einmal – und wäre um ein Haar rücklings die Treppe wieder heruntergekugelt, denn die Tür zu Priscyllas Zimmerflucht, gegen die ich in vollem Lauf stürmte, war abgeschlossen.
Der Anprall tat weh und ich konnte mich gerade noch am Treppengeländer festhalten, ehe ich von meinem eigenen Schwung zurückgeworfen wurde. Aber der Schmerz riss mich auch wieder in die Wirklichkeit zurück.
Verzweifelt griff ich nach der Türklinke und begann daran zu rütteln – mit
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