Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
was.
Geteerte Straßen waren in Großbritannien – und erst recht in dieser gottverlassenen Ecke Schottlands – keineswegs selbstverständlich. Soviel ich wusste, wurden sie überhaupt erst seit knapp zwanzig Jahren angelegt. Eine Straße wie diese war eine Kostbarkeit, die man nicht einfach so aufgab und dem Verfall überließ. Und selbst wenn – zwanzig Jahre reichten einfach nicht aus, ein derart widerstandsfähiges Material in einen solchen Zustand zu versetzen! Der ganze Anblick war höchst seltsam. Und höchst beunruhigend.
Langsam ging ich weiter. Der Ort war nur noch ein paar Dutzend Schritte entfernt, aber ich wurde immer langsamer und ich betete, dass es noch früh genug war, die Leute schlafend in ihren Betten liegen zu lassen, sodass niemand mich bemerkte und ich Cordwailers Laden unbehelligt erreichte, um mich erst einmal mit Cohen zu besprechen. Es würde schwer genug sein, ihm die schrecklichen Geschehnisse der vergangenen Nacht zu berichten.
Aber meine Gebete wurden nicht erhört. Als ich um die Ruine der Kirche bog, erblickte ich gleich ein Dutzend Männer und Frauen, die sich auf der Straße aufhielten – und unter ihnen auch Alyssa, deren Anblick mir einen scharfen Stich versetzte. Am anderen Ende der Stadt, unmittelbar vor Cordwailers »Spezialitetenhandel«, sah ich Cohen, der offensichtlich gerade im Bahnhofsgebäude gewesen war. Er erblickte mich wohl im gleichen Moment wie ich ihn, denn er wechselte abrupt die Richtung und kam im Sturmschritt auf mich zu.
Aber auch den anderen war ich aufgefallen – was hatte ich erwartet? Meine Kleider waren total durchnässt und hingen in Fetzen, meine Hände und mein Gesicht waren blutig zerschunden und wenn ich auch nur halb so elend aussah, wie ich mich fühlte, musste ich einem Toten mehr ähneln als einem Lebenden. Verwirrte, aber auch erschrockene und misstrauische Blicke trafen mich. Gespräche wurden abrupt unterbrochen, Bewegungen nicht zu Ende geführt.
Besonders Alyssa erbleichte jäh, als sie mich sah. Ihre Hände begannen zu zittern und sie sah so schuldbewusst aus, wie es nur ging. Eine Sekunde lang starrte sie mich schlichtweg entsetzt an, dann fuhr sie herum, lief ein paar Schritte weit so schnell davon, dass sie ebenso gut hätte rennen können, und blieb dann wieder stehen – wodurch sie natürlich nur noch mehr Aufmerksamkeit erregte. Sie hatte nicht besonders viel Talent zur Verschwörerin. Aber darauf kam es nun auch wirklich nicht mehr an.
Ich ging auf sie zu und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie warten sollte. Alyssa zögerte. Ihr Blick huschte unstet wie der eines in die Enge getriebenen Tieres über die Straße und für ein paar Sekunden drohte sie einfach in Panik zu geraten, beherrschte sich dann aber im letzten Moment doch. Nichts von alledem entging den neugierigen Blicken, die uns folgten, aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Nach dem, was ich diesen Menschen zu sagen hatte, spielte für sie wahrscheinlich überhaupt nichts mehr eine Rolle.
»Ich muss Sie sprechen, Alyssa«, sagte ich.
Ihr Blick flackerte. »Es … es tut mir Leid, Robert«, sagte sie. »Ich wollte Ihren Freund benachrichtigen, glauben Sie mir, aber –«
»Das ist jetzt egal«, unterbrach ich sie. »Ich muss Ihnen etwas sagen, Alyssa. Kommen Sie.«
Ich ergriff sie mit sanfter Gewalt am Arm, sah mich eine Sekunde suchend um und zog sie schließlich in Ermangelung eines anderen Ortes wieder zu der verfallenen Kirche hinüber, in der wir am vergangenen Abend bereits miteinander gesprochen hatten. Wir konnten jetzt zwar noch immer praktisch von der gesamten Stadt gesehen werden, aber zumindest hörte uns niemand.
Alyssa wehrte sich nicht, sondern sah mich nur voller Verwirrung und Schrecken an, aber ich schwieg eine geraume Weile. Es fiel mir unendlich schwer, die passenden Worte zu finden. Ganz davon zu schweigen, dass es für das, was ich ihr mitteilen musste, wohl keine passenden Worte gab – diese Frau hatte ihre Angst überwunden und sich mir, einem wildfremden Menschen, anvertraut, weil sie Angst um ihr Kind hatte, und ich hatte ihr versprochen, ihr zu helfen. Wie sollte ich ihr jetzt erklären, dass ich vor wenigen Stunden tatenlos dabei zugesehen hatte, wie ihr Sohn vor meinen Augen im Meer ertrank?
»Alyssa, es ist … etwas Furchtbares passiert«, sagte ich.
Alyssa sah mich fragend an; schwieg. In meiner Kehle saß plötzlich ein bitterer Kloß, den ich einfach nicht hinunterbekam, so heftig ich auch
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