Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
ändern.«
»Wenn es so ist, dann springen Sie doch einfach vom Balkon«, maulte Cohen. »Es wird ja sowieso nichts ändern – und Sie würden uns beiden wirklich eine große Freude damit machen.«
Zu meiner Überraschung lachte Crowley. Aber nur für einen Augenblick, dann wurde er wieder sehr ernst. Er nahm die Arme herunter, trat ein Stück von der Balkonbrüstung zurück und wandte sich mit einem stummen Blick an das TIEFE WESEN, das nur einen halben Schritt hinter Cohen stand. Das Geschöpf drehte sich auf der Stelle herum und verschwand im Inneren des Gebäudes. Crowley, Cohen und ich blieben allein auf dem Balkon zurück.
Cohen tauschte einen überraschten Blick mit mir. Wenn nicht jetzt, wann würden wir eine bessere Chance bekommen, Crowley zu überwältigen? Aber das musste Crowley ebenso klar sein wie uns – und vielleicht war der einzige Grund, aus dem wir darauf verzichteten, über ihn herzufallen, genau der, dass uns dies klar war. Crowley fühlte sich zu sicher, sodass es nur ein Bluff sein konnte.
Vermutlich hätte es ohnehin nichts genutzt, denn das Amphibiengeschöpf kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück. In seiner Begleitung befanden sich Joshua und die Hennessey-Kreatur. Ich bemerkte voller Schrecken, dass die Menschenähnlichkeit des TIEFEN WESENS wieder größer geworden war. Die meisten seiner Wunden waren bereits verheilt und auch die zerbrochenen Knochen schienen wieder in ihre ursprüngliche Form zusammenzuwachsen. Noch wenige Stunden, vielleicht einen Tag und es würde wieder einen Hennessey geben, der sich als Wohltäter der Menschen von Brandersgate ausgab und ihnen in Wirklichkeit ihr Leben stahl, ohne dass sie es auch nur merkten.
Ich begegnete Joshuas Blick und schauderte, denn in den Augen des Knaben war eine Kälte, die mich vielleicht noch mehr erschreckte als alles, was Crowley getan und gesagt hatte. Und noch etwas. Zum zweiten Mal und noch intensiver hatte ich das Gefühl, etwas Bekanntes im Blick dieses Jungen zu entdecken, etwas, das eine bisher verborgene Seite meiner Seele zum Klingen brachte, ohne dass ich sagen konnte, warum.
Für einen ganz kurzen Moment schien es Joshua ebenso zu gehen, denn er stockte im Schritt und aus der Verachtung in seinen Augen wurde ein Ausdruck tiefer Verwirrung. Dann drehte er mit einem Ruck den Kopf, trat ganz dicht an Crowleys Seite und blickte demonstrativ auf das Meer hinab.
Der Wind frischte auf. Die Böen rissen die Wolkendecke über unseren Köpfen weiter auseinander und mir fiel erst jetzt auf, dass der Mond zu einer perfekt gerundeten Scheibe am Himmel geworden war. Es wurde merklich heller, nachdem die Wolken mehr und mehr verschwanden, und ich konnte jetzt die Wasseroberfläche unter uns erkennen. Offensichtlich hatten wir fast die ganze Nacht in unserem Verlies verbracht, denn die Flut zog sich bereits wieder zurück. Aus dem schwarzen Wasser tauchten die Spitzen der Felsenriffe auf und plötzlich glaubte ich eine vertraute Konstellation zu entdecken. Da niemand Anstalten machte mich daran zu hindern trat ich dichter an die Balkonbrüstung heran und strengte meine Augen an, um mehr Einzelheiten auszumachen. Tatsächlich – der Balkon war an der dem Land zugewandten Seite des Turmes angebracht, sodass ich fast unmittelbar auf die Lichtung im Felsenwald unter mir herabblicken konnte, auf der ich vor zwei Nächten das vermeintliche Ertrinken Joshuas und der anderen Kinder beobachtet hatte.
Mein Herz begann zu klopfen und meine Finger zitterten plötzlich so stark, dass ich hastig die Balkonbrüstung umklammerte, damit Crowley und die anderen es nicht sahen. Irgendetwas Unheimliches ging hier vor. Das Mondlicht war hell, aber nicht so hell, dass ich wirklich Einzelheiten erkennen konnte – ich sah nur, dass dort, wo sich das Wasser jetzt immer schneller zurückzog, irgendetwas aus den Wogen auftauchte … ein Kreis regelmäßiger, dunkler Erhebungen, sonderbar gleichartig geformt und zu regelmäßig angeordnet, um zufällig zu sein.
Im Grunde wusste ich längst, was es war, aber mein Verstand weigerte sich noch für einige Augenblicke, es zu akzeptieren. Was dort unten wieder aus dem Meer auftauchte, dass waren die Gestalten, die ich vor zwei Tagen in den Fluten hatte versinken sehen.
Ungläubig fuhr ich herum und starrte Joshua an, dann wandte ich mich wieder dem unmöglichen Geschehen unter mir zu. Das Meer zog sich so rasch zurück, wie es gestiegen war, und die in dunkle Mäntel gehüllten Gestalten der Kinder
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