Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
plötzlich bewusst wurde – in dem der Taube gefangen war, die ich vorhin beobachtet hatte. Ich wusste auch mit zweifelsfreier Sicherheit, dass es dieses Tier war, nicht irgendein anderes. Doch so klar diese Erkenntnis auch sein mochte, so sehr war ich auch zugleich mit dem Geist des Tieres verschmolzen. Es war mit unmöglich, mit Worten aus der Empfindungswelt der Menschen zu beschreiben, was ich spürte: eine tierische, animalische Gier, nicht nur nach Nahrung, sondern nach dem Leben selbst, das ungleich einfacher als das eines Menschen war, in seiner zielgerichteten Einfachheit aber auch ungleich intensiver. Auch meine übrigen Sinneseindrücke waren so fremd und bizarr, dass sie mich im ersten Augenblick schier überwältigten; und sie waren zugleich einfacher, wie auch eindringlicher, als ich es je zuvor verspürt hatte. Aber da war auch noch etwas – etwas, das ganz und gar nicht tierisch war, sondern …
Ich konnte es nicht beschreiben. Eine fremde Präsenz, schrecklich und düster – und zugleich auch auf eine furchtbare Weise vertraut. Da war noch ein drittes Bewusstsein, das neben dem meinen seine Fühler nach dem Geist des Tieres ausgestreckt hatte, und anders als ich beschränkte es sich nicht auf die Rolle des passiven Beobachters, sondern tat etwas. Ich konnte nicht sagen, was, doch schon die bloße Ahnung seines Daseins erfüllte mich mit einem solchen Entsetzen, dass ich für einen Moment mit aller Kraft versuchte, mich aus dem Bewusstsein der Taube zurückzuziehen.
Es gelang mir nicht. Anders als in einem gewöhnlichen Traum, reichte in diesem die simple Tatsache, sich vor Augen zu führen, dass es nur ein Traum war, nicht aus, um daraus zu erwachen.
Eine Bewegung am rechten Rand meines sonderbar zweigeteilten Gesichtsfeldes erregte meine Aufmerksamkeit. Ganz instinktiv versuchte ich den Kopf zu drehen und beinahe zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir – wenn auch mit einem völlig unerwarteten Ergebnis. Die Taube drehte mit einem Ruck den Kopf und ein wahrer Strudel optischer Sinneseindrücke überflutete mich derart, dass ich im allerersten Moment nichts als Chaos wahrnahm. Erst danach rief ich mir in Erinnerung, dass die Bewegungen von Vögeln wenig mit denen von Menschen gemein hatten. Ich wartete, bis sich das Chaos von Bildern und scheinbar losgelösten Impressionen vor meinen Augen wieder halbwegs beruhigte, dann versuchte ich ein zweites Mal, das Tier in die gewünschte Richtung blicken zu lassen, und auch wenn mich das Ergebnis wieder schwindeln ließ, so vermochte ich doch wenigstens ansatzweise zu erkennen, was die Aufmerksamkeit meines unfreiwilligen Gastwirtes erregt hatte.
Die Taube hielt sich in einem uralten Dachboden auf, in dem es außer Staub und Schmutz, Trümmern und Anzeichen eines unaufhaltsam voranschreitenden Verfalls noch mindestens zwei Dutzend gleichartiger Tiere gab und dessen Zugang aus einer rechteckigen Öffnung im Boden bestand, aus der die beiden oberen Sprossen einer hölzernen Leiter ragten. Die baufällige Konstruktion hatte zu zittern begonnen; ganz sacht nur, für die überscharfen Sinne des Tieres jedoch unübersehbar. Zugleich vernahm ich Geräusche; ein unheimliches, düsteres Rumoren und Grollen, das ich erst nach Augenblicken als den Laut menschlicher Stimmen identifizierte, wenn auch durch den Filter der tierischen Sinne derart verzerrt und verfremdet, dass es mir beinahe Angst machte.
Mein Wirt war nicht das einzige Tier, das aufmerksam geworden war. Auch die Köpfe der anderen Tiere bewegten sich mit jenen kleinen, vogeltypischen Rucken herum, die mich vom Standpunkt des inneren Beobachters heraus so verwirrt hatten. Die Leiter zitterte immer heftiger, dann erschienen Hände, Kopf und Schultern eines grobschlächtigen, riesenhaft gebauten Mannes über der obersten Sprosse. Die Gestalt stieg rasch höher, trat mit einer ungemein kraftvollen, zugleich aber auch ungemein plump wirkenden Bewegung vollends auf den Dachboden hinauf und einen Schritt zur Seite, um Platz für eine zweite zu machen, die hinter ihr die Leiter emporgestiegen kam. Dieser zweiten folgte eine dritte und schließlich noch eine, bis ich mich vier breitschultrigen Giganten gegenübersah, die wie zum Leben erwachte Kirchtürme in der Mitte des Dachbodens standen, so groß, dass sie sich nicht einmal vollends aufrichten konnten, sondern zu einer gebückten, halb nach vorn geneigten Haltung gezwungen waren, obgleich das Dach hoch und gewaltig wie das einer Kathedrale über
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