Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
verspürte er hier das gleiche Gefühl.
Er räusperte sich beklommen.
»Is nur’n Schiff«, stieß er hervor, schroffer als beabsichtigt und ein bisschen gegen seine eigene Überzeugung, aber er durfte seine ohnehin bereits nervösen Leute nicht noch weiter verunsichern. Trotzdem war er noch vorsichtiger als bisher. »Ihr wartet hier«, befahl er. »Ich seh ersma allein auffm Kahn nach’m Rechten.«
Er erntete keinen Widerspruch.
Langsam näherte sich Rowlf der THUNDERCHILD. Nirgendwo brannte Licht und auf dem Schiff waren keinerlei Bewegungen oder sonstigen Lebenszeichen zu entdecken. Abgesehen von dem nur aus den Augenwinkeln wahrnehmbaren Eindruck von Veränderungen und seinem Unbehagen, das mit jedem Schritt stärker wurde, den er sich näherte, gab es keinerlei Anzeichen, dass etwas mit dem Schiff nicht stimmte oder sich jemand an Bord aufhielt.
Das Schiff lag im Trockendock, sodass er sich wenigstens keine Gedanken darüber zu machen brauchte, wie er an Bord kam. Rowlf kletterte an dem Gerüst an der vorderen Breitseite des Schiffes empor. Etwa auf halber Höhe spürte er plötzlich ein dumpfes Vibrieren, als hätte sich das Gerüst – oder das Schiff – um eine Winzigkeit bewegt. Erschrocken verharrte er und wartete einige Sekunden, doch die Bewegung wiederholte sich nicht. Möglicherweise war es nur ein Windstoß gewesen, oder eine Halterung des Gerüstes hatte sich geringfügig verschoben. Er kletterte weiter, schwang sich über die Reling und duckte sich sofort in die Schatten. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich wirklich niemand in seiner Nähe aufhielt, richtete Rowlf sich wieder auf.
Er wollte seinen Leuten gerade ein Zeichen geben, dass sie nachkommen sollten, als sich die THUNDERCHILD erneut bewegte, wesentlich heftiger diesmal. Ein starker Stoß erschütterte das Schiff und riss ihn fast von den Beinen, sodass er einen Moment lang um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Knirschend lösten sich mehrere Halterungen, mit denen das Gerüst an der Schiffswand befestigt war. Als sich Rowlf über die Reling beugte, entdeckte er zahlreiche Risse, die den Boden vor dem Schiff wie das Muster eines Spinnennetzes durchfurchten.
Ein Erdbeben!, durchzuckte es ihn.
Nach nur wenigen Sekunden gab es einen weiteren, noch stärkeren Erdstoß. Das gesamte Schiff bäumte sich auf und schien zu ächzen wie ein waidwundes Tier. Rowlf blieb nur deshalb auf den Beinen, weil er sich mit aller Kraft an der Reling festhielt. Der größte Teil des Gerüstes stürzte polternd in sich zusammen. Aus den Rissen im Boden um das Schiff wurden breite Spalten. Aus einigen von ihnen quoll feurige Lava.
Rowlf glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Selbst bei einem Erdbeben war es unmöglich, dass Lava bis an die Erdoberfläche stieg, aber dann erinnerte er sich an Howards Schilderung von dem Lavasee in der Höhle. Alles deutete darauf hin, dass es auch in dieser Hinsicht einen Zusammenhang gab.
Gehetzt blickte er sich um. Er musste von dem Schiff herunterkommen, das offenbar den Mittelpunkt des Geschehens bildete, doch das Gerüst war zusammengebrochen. Die Schiffswand war viel zu glatt zum Klettern und einen Sprung aus dieser Höhe würde er keinesfalls überleben.
Seine Begleiter wichen vor der sich immer mehr ausbreitenden Lava zurück. Rowlf konnte ihre aufgeregten und erschrockenen Rufe hören und er sah auch wie von weiter entfernt durch den Lärm aufgeschreckte Wächter herbeigerannt kamen, aber das war im Moment seine geringste Sorge.
Wieder durchlief ein furchtbarer Ruck das Schiff und diesmal stürzte Rowlf hart zu Boden. Als er sich wieder aufrappelte, sah er, dass die THUNDERCHILD ein Stück weit in den Boden eingebrochen war. Rings um das Schiff breitete sich Lava aus, in die es immer tiefer einsank. Die mörderische Hitze war bis zu ihm herauf zu spüren.
Nichts schien das Einsinken der THUNDERCHILD mehr aufhalten zu können und auf Hilfe von außen durfte er nicht hoffen. Zugleich war ihm klar, dass es sich hier nicht um ein Naturereignis handelte, ein Erdbeben, wie er zunächst angenommen hatte. Die Lava, die es hier gar nicht geben durfte, sprach entschieden dagegen. Nein, hier waren magische Kräfte am Werke und das Zentrum des Geschehens war eindeutig das Schiff selbst.
Die Hitze wurde immer schlimmer und würde ihn töten, wenn er noch lange wartete. Eine Flucht war unmöglich und Rowlf begriff, dass er nur dann eine kleine Chance zum Überleben hatte, wenn er sich tiefer ins Schiff
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