Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
dystopisches Amerika der nahen Zukunft folgen.
Nun, Unsterblichkeit ist ein, wenn nicht das Lieblingsthema der Science Fiction – der Traum vom Eingang des Menschen in die selbsterzeugte Transzendenz. Die Frage ist nur: Kann Gary Shteyngart, der sich mit seinen bisherigen Romanen (unter anderem dem »Handbuch für den russischen Debütanten« und »Snack Daddys abenteuerliche Reise«, beide bei Rowohlt) eher als Stimme der neuen US-amerikanischen Immigrantenliteratur einen Namen gemacht hat, diesem wahrhaft ewigen Thema ein paar neue Aspekte abgewinnen, die es über eine reine Genre-Fingerübung hinausheben?
Lenny Abramov ist neununddreißig Jahre alt, arbeitet für Posthumane Dienstleistungen, eine Firma, die ihren Kunden mikrobiologische und schönheitschirurgische Dienste anbietet, um ihnen zu wortwörtlicher Unsterblichkeit zu verhelfen. Zu Beginn des Romans befindet sich Lenny noch in Rom, wo er sich um potenzielle Kunden kümmern soll. Auf einer Party lernt er Eunice Park kennen, eine fünfzehn Jahre jüngere Amerikanerin koreanischer Abstammung, und verliebt sich sofort in sie – was ihn zum Kauf eines Tagebuchs und zum oben zitierten vollmundigen ersten Satz motiviert.
»Und dennoch wird Lenny Abramov, demütiger Tagebuchschreiber, winzige Nichtigkeit, ewig leben. Die Technologien beherrschen wir fast schon. Als Koordinator der Öffentlichkeitsarbeit Lebensfreude (Ebene G) in der Abteilung Posthumane Dienstleistungen der Staatling-Wapachung Corporation, werde ich als Erster davon profitieren. Ich muss mich nur gut führen und an mich glauben.«
Was »sich gut führen« genau bedeutet, erklärt Lenny seinem Tagebuch ebenfalls:
»Muss mich von Transfetten und Fusel fernhalten. Jede Menge grünen Tee und alkalisiertes Wasser trinken und mein Genom den richtigen Leuten zur Verfügung stellen. Ich muss meine schrumpfende Leber wieder wachsen lassen und mein gesamtes Blut durch ›SmartBlood‹ ersetzen und mir ein sicheres und warmes (aber nicht zu warmes) Plätzchen suchen, wo ich das Wüten der Jahreszeiten als auch die Massenvernichtungen aussitzen kann. Und wenn die Erde vergeht, was sie sicher tun wird, dann verlasse ich sie und begebe mich auf eine neue Erde, mit mehr Grün, aber weniger Allergenen …«
Damit steht also Lenny Abramovs Lebenskonzept fest: Unsterblichkeit durch Liebe und Zukunftstechnologie. Ein Konzept, das sofort hart auf den Prüfstand gestellt wird. Zurück in New York City kommt er in ein Land, das durch einen Krieg in Venezuela,
selbstmörderische Finanzspekulationen und einen immer schwächer werdenden Dollar am Rande der Selbstauflösung balanciert. Für Lenny heißt das, dass er quasi als Fremder zurückkehrt und dementsprechend auch fast wie ein Immigrant behandelt wird.
Ähnlich wie bei Thomas Pynchon geht mit dieser äußeren Auflösung auch eine wachsende innere, geistige Entropie, eine informationstheoretische Auflösung einher. Als Lenny vom Flughafen kommt und an mehreren Sperren des Militärs vorbei muss, wird die Schizophrenie von Zukunftsgläubigkeit und Gegenwartsverweigerung sichtbar – und zwar auf der Beschilderung eines Panzers:
»ES IST VERBOTEN, DIE EXISTENZ DIESES FAHRZEUGS (DES ›OBJEKTS‹) ZUR KENNTNIS ZU NEHMEN, BEVOR MAN 1 KM VOM SICHERHEITSRADIUS DES JOHN F. KENNEDY INTERNATIONAL AIRPORT ENTFERNT IST. INDEM SIE DIESES SCHILD LESEN, LEUGNEN SIE DIE EXISTENZ DES OBJEKTS UND STIMMEN DIESER VEREINBARUNG ZU.«
Einen anderen Aspekt dieser inneren Auflösung offenbart die elektronische Korrespondenz von Eunice Park, die den anderen Blickwinkel des Romans liefert. Hier wird die real existierende SMS-Twitter-Facebook-Sprache verkürzt und vergröbert, bis nur noch emotional aufgeladene Sprachfetzen wie »IGIMGK« (Ich glaub, ich muss gleich kotzen!) und »BGM« (Bloß gefickt, Mann!) übrig bleiben. Nichtdigitale Konversation (das gute alte Miteinandersprechen) heißt »Texten«, während Lesen auf das »Scannen« nach interessantem Content reduziert wurde.
Eunice kehrt ebenfalls in die Staaten zurück, und halb aus Unentschlossenheit, halb aus Geldmangel zieht sie bei Lenny ein. Aus Lennys Sicht bricht das Glück auf Erden an, während Eunices Textnachrichten ihre nicht ganz überwundene Abscheu vor Lennys Alter und seiner altmodischen Intellektualität zeigen. Andererseits ist sie gerührt von seiner aufrichtigen Leidenschaft und Begeisterung für sie – Gefühle, die sie bei ihren bisherigen Lovern vermisst hat.
Mangel an emotionaler Nähe,
Weitere Kostenlose Bücher