Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
damit können sowohl Lenny als auch Eunice etwas anfangen, denn beide stammen aus Einwandererfamilien
und müssen sich mit den Identitätsproblemen der zweiten Generation herumschlagen: Lenny mit seiner krampfhaften Suche nach Anerkennung und Gleichstellung mit seinen Kollegen auf der einen, Eunice mit ihrer Zerrissenheit zwischen Selbstfindung und Selbstaufgabe und ihrem Beschützerinstinkt gegenüber ihrer Mutter und Schwester auf der anderen Seite.
Indem Shteyngart die USA seines Romans kurzerhand in eine von China und Norwegen kontrollierte Wirtschaftszone verwandelt, gelingt ihm allerdings ein wirklich genialer Trick: Plötzlich sind alle US-Bürger quasi Immigranten im eigenen Land, und Shteyngart kann die nationalen und sozialen Befindlichkeiten dieser megalomanischen Weltmacht wieder auf ihren nackten, schutzbedürftigen Kern zurückführen, nämlich auf das Einwandererdasein, auf das Aus-dem-Nichts-Kommen, auf das Wieder-von-vorn-anfangen-Müssen, mit dem die Geschichte dieses Landes überhaupt begann.
In »Super Sad True Love Story« endet diese Geschichte im Ausverkauf der US-Wirtschaft an die chinesische Währungsmacht. Das UN-Gebäude wird zu einer riesigen Shopping- und Freihandelszone für Wohlhabende, während die alten New Yorker Stadtviertel zerbombt oder aufgegeben werden. Lenny Abramov findet sich inmitten dieser katastrophalen Ereignisse wieder – für einige Zeit fällt sogar flächendeckend das Internet aus, was zahllose Selbstmorde unter jungen Leuten zur Folge hat – und muss nun versuchen, nicht nur sein Leben zu retten, sondern auch Eunice zu halten. Denn Eunice hat inzwischen Lennys Chef kennengelernt und
mit ihm eine Affäre angefangen. Zu guter Letzt macht Eunice nach einer Firmenparty mit Lenny Schluss, und beide bleiben als das zurück, was sie bereits zu Anfang des Romans waren: Lenny ein intellektueller Dinosaurier und Eunice eine sinnsuchende Unerwachsene.
Verschiedene Rezensenten haben Gary Shteyngarts Roman genau das vorgehalten: dass seine Figuren nicht dynamisch genug seien und zu wenig Entwicklung durchmachten, insbesondere Lenny. Doch wer den Schluss des Romans genau liest, begreift, dass der eigentliche Held des Romans die Tagebuch- und E-Mailtexte sind – das McLuhan’sche Medium selbst. Wer den Spagat zwischen dem »guten alten« Tagebuch und der Flüchtigkeit der Onlinekonversation mitmacht und aushalten kann, hat sich als Leser am Ende des Romans selbst bereits als Teil dieser heraufdämmernden Welt erwiesen – und das ist die Entwicklung, die Gary Shteyngarts Roman mit uns durchläuft.
»Ich werde niemals sterben.«
Mit diesen nicht gerade unprätentiösen Worten jagt Gary Shteyngart nicht nur die aktuelle Weltwirtschafts- und -finanzkrise auf höchstem Tempo durch den Mixer. Nein, er nimmt sich auch unseres immer stärker ausgeprägten High-Tech-Fetischismus an, indem er ihn in ein globales Pausenhof-Porno-Teenie-Getwitter verpackt und ihn seinen Hauptfiguren als schicke, »Äppärät« genannte Smartphone-Kieselsteine um den Hals hängt.
Shteyngart macht das sehr geschickt. Im launig-ironischen Tonfall eines New Yorker Trendbloggers erzählt er von »Posthumanen Dienstleistungen«, von »SmartBlood« und einer »neuen Erde« – aber seine Erzählung führt uns immer wieder in unsere Gegenwart. Eine Gegenwart, die bereits von einer alles zersetzenden hedonistischen Unsterblichkeitssehnsucht geprägt ist und deren Sprachverfall immer weiter voranschreitet. »Super Sad True Love Story« funktioniert insofern letztlich weniger als Science-Fiction-Roman und mehr als phantastische Parodie der Realität. Als solche ist es allerdings ein genialer Roman – denn greller, einfallsreicher und wortmalerischer kann man die gegenwärtige intellektuelle und moralische Krise der liberalen Moderne kaum ausmalen.
Das ist die Krise, über die Gary Shteyngart eigentlich schreibt und die ihn in eine Linie mit Ray Bradburys »Fahrenheit 451« stellt. In einem Interview mit der New York Times erklärte er: »Darum ging es Bradbury doch letztlich: um eine Zukunft ohne Bücher. Nicht nur um eine autoritäre Regierung, die Bücher verbrennt – nein, um Menschen, die auf einmal keine Bücher mehr lesen wollen!«
Jeder Leser, jeder Facebook- und Twitter-Nutzer, jeder Aktienbesitzer, jeder Fleischesser und Gemüsekocher, jeder Bücherliebhaber möge diesen Roman lesen und die supertrauriglustige Welt von Lenny und Eunice das nächste Mal, wenn man den Internetbrowser
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