Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
modellierten Geschichte, nämlich, »dass Abel Kain erschlagen hatte und nicht Kain Abel«; der Vorleser sagt aber genau das Gegenteil. Ein Flüchtigkeitsfehler? Das Werk eines besserwisserischen Korrektors? Ein geheimes Signal, welches völlig neue Horizonte der Interpretation auftut? Nichts dergleichen. Der gesamte »tiefgründige und
gleichzeitig skurril-amüsante« Text Lems ist hier im Grunde ebenso irrelevant wie die Verse des Elektrobarden – nichts als ein beliebiger Rohstoff für die Übungen des Sound-Designers, wenn er gerade mal nicht damit beschäftigt ist, im Dienste der Autoindustrie den zum jeweiligen Modell passenden Motorensound zu kreieren.
Ich kenne mich im Sound-Design nicht aus, und meine Vorstellung von Klang-Collagen wurde beispielsweise von der altehrwürdigen Revolution Number 9 der Beatles geprägt. Sollte es sich beim vorliegenden Werk um eine Art Klang-Collage handeln und diese repräsentativ sein, dann fürchte ich, dass es mit dieser Kunstform seit gut vierzig Jahren bergab geht. In seiner Erscheinungsform als mehrkanaliges Raumklang-Hörspiel vermag ich das Werk wohl auch nicht gebührend zu würdigen; mir genügt es – Banause, der ich bin –, zwei Kanäle voll zu haben. Vielleicht könnte ich dem Opus rein akustisch mehr abgewinnen, wenn der Text von Lem darin nicht so stören würde, aber ganz ohne Text oberhalb des Dada-Niveaus wäre es wohl doch nicht als Hörspiel zu verkaufen gewesen. Was dazu zu sagen bleibt, wurde vor rund hundert Jahren in dem bekannten Verskunstwerk antizipiert, das die Frage aufwirft, wer denn da mit Lehm schmeißt: »… der sollte sich wat schäm’! / Der sollte doch wat anders nehm’ / als ausgerechnet Lem!«
Erik Simon
J. G. BALLARD
RUNNING WILD
Komposition: Georg Zeitblom · Adaption und Regie: Christian Wittmann, Georg Zeitblom · Westdeutscher Rundfunk 2011
Wer ist der Mörder? Und warum hat er gemordet? Diese Fragen treiben uns um; das Genre, das sich damit befasst, ist das erfolgreichste im Unterhaltungssektor. Auch J. G. Ballards 1988 entstandene Novelle »Running Wild« ist ein Krimi, doch mit der genreimmanenten Schnitzeljagd – »Ein Mensch ist tot, und ich möchte wissen warum«, lassen die Tatort -Autoren ihre Kommissare jeden Sonntagabend sagen – hält sich der Text nicht allzu lange auf.
Schon gleich zu Beginn heißt es: »Die Eltern wurden von ihren eigenen Kindern ermordet.«
In der Hörspieladaption fällt dieser Satz erst etwas später, aber auch hier besteht von Anfang an kein Zweifel daran, dass die Kinder von Pangbourne Village, einer mit modernsten Sicherungssystemen von der Außenwelt abgeschirmten Luxussiedlung unweit Londons, ihre Eltern in einer generalstabsmäßig geplanten Aktion getötet haben und danach verschwunden sind. Dennoch können die Behörden dieser Behauptung des hinzugezogenen Psychologen Richard Greville, der uns die Geschichte erzählt, ganz und gar nichts abgewinnen: Warum nur sollten die Kinder das tun? Warum sollten sie die sie liebenden Eltern, die ihnen ein behütetes, geregeltes, zivilisiertes Leben im idyllischen Pangbourne Village ermöglichten, kaltblütig ermorden? Ein völlig unglaubwürdiges, ja absurdes Verbrechen soll also aufgeklärt werden, aber je länger Grevilles Untersuchungen andauern, desto klarer wird: Es geht überhaupt nicht darum, irgendetwas aufzuklären. Running Wild ist gerade so viel Krimi wie Michael Hanekes meisterhafter Film Das weiße Band ein Krimi ist: formal der Rätselstruktur folgend, gräbt sich die Handlung immer tiefer ins Phantasmagorische.
Denn J. G. Ballard war ein Autor, der sich mehr für Orte als für Menschen interessierte, genauer: für jenen Punkt im Realitätsgefüge, an dem wir uns selbst in der Welt nachbauen, und »Running Wild« ist in dieser Hinsicht einer seiner gelungensten, weil abgründigsten Texte. Der Plot schlägt einige groteske Volten, bis man begreift, dass Täter und Motiv in der Infrastruktur von Pangbourne Village zu finden sind, einer »Null-Welt«, die in zahlreichen futuristischen Varianten bei Ballard immer wieder auftaucht. Pangbourne Village ist die Einhegung eines instinktgetriebenen Wesens, die auf die schlimmstmögliche Art scheitert – sie hat Erfolg. Sie erzeugt eine geschichtsvergessene Endlosschleife namens Normalität, aus der am Ende nur der Wahnsinn hinausführt: der »Wahnsinn als Möglichkeit, Freiheit zu erlangen«. »Running Wild« liest sich wie ein Präludium zu Ballards späten Romanen
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