Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
scheinbar wahllos von allerlei Gegenständen umgeben, undefinierbare technische Apparate. »Hallo Luc«, unterbricht eine weibliche Stimme die Stille, »bitte melde dich sofort, wenn du zurückkommst.« – »Paul? Nora hier.« Dieselbe Stimme, diesmal von gegenüber. »Warum geht keiner ans Telefon. Das ist seltsam.« Und, wieder aus einer anderen Ecke: »Ruben, wo seid ihr? Ich bin verzweifelt. Ich habe solche Angst.« Der Klang ist verrauscht, teilweise von Geräuschen überlagert, die Sprache klingt irgendwie verzerrt, wie eine Telefonstimme. Sie kommt abwechselnd aus einem der fünf im Raum verteilten Geräte, die jetzt als Anrufbeantworter erkennbar werden, veraltete Modelle, noch aus der Analogzeit. Jetzt meldet sich eine weitere, eine männliche Stimme zu Wort. Insgesamt fünf verschiedene Sprecher lassen sich identifizieren, Sprecher, die einander Nachrichten hinterlassen.
Ein gespenstisches Szenario. Die Situation gleicht einer Theateraufführung, nur dass auf der Bühne kein Mensch zu sehen ist. Die Akteure sind ausschließlich Maschinen, Apparaturen, die Lautäußerungen reproduzieren. Die Stimmen treten nicht in Dialog miteinander. Auch der Zuschauer, nein, der Zuhörer wird nie direkt angesprochen. Die Nachrichten sind gar nicht für seine Ohren bestimmt, was ein Gefühl der Unsicherheit zur Folge hat, als würde man unfreiwillig Zeuge eines fremden Gesprächs. Unversehens fühlt man sich in die Rolle eines Spitzels versetzt, der damit befasst
ist, irgendwo sichergestellte Medien abzuhören und subversive Gedanken aufzudecken. Der Zuhörer wird zum Mitwisser. Und ist zunächst ratlos. Erst nach und nach schält sich heraus, was es mit diesen aufgezeichneten Telefonaten auf sich hat. Weil das Szenario sich nur allmählich und bruchstückhaft erschließt und nur durch das, was die Stimmen eher beiläufig darüber preisgeben, gerät es umso bedrohlicher. Die Mitteilungen wirken entschlossen, nachdenklich, konspirativ, dann wieder unsicher, ängstlich, gehetzt. Offenbar handelt es sich um eine Gruppe von Verschwörern, deren Aufzeichnungen wir da belauschen.
Industrie und Politik sind eine unheilige Allianz eingegangen, ein Konzern hat sich über Recht und Gesetz gestellt und kontrolliert alle Belange des öffentlichen und privaten Lebens. Die Bürger werden rund um die Uhr bei jeder Tätigkeit überwacht. »Anonyme Briefkästen« sollen Spitzel ermutigen. Sogar musikalische Vorlieben werden gescannt, wer verbotene Titel hört, wird bestraft. »Beim zweiten Mal wird die Strafe höher und beim dritten Mal nehmen sie dich mit.« Das digitale Zeitalter hat auch hier seinen Siegeszug angetreten. Weil analoge Leitungen längst obsolet sind und deshalb auch nicht abgehört werden, hat die Gruppe das alte Telefonnetz für ihre konspirative Verständigung auserkoren. Mehrfach findet sich unter den Nachrichten, einer beschwörenden Formel gleich, der Satz »Am Dienstag um neun sind die Erdbeeren reif«. Ähnlich Anthony Burgess, der mit seiner Metapher vom »Clockwork Orange« die bedrohliche Mutation eines biologischen Organismus zu einem mechanischen Räderwerk symbolisiert hat, könnte Helmut Mittermaier seine titelgebende Metapher auf das langsame Anschwellen des Widerstands und, wenn die Zeit reif ist, auf den abrupten Ausbruch der Revolte hin verstanden wissen wollen.
Die Verschwörer, Komponisten und Klangkünstler, nennen sich »sonopartisan«. Der Name ist Programm. Mit kreativen Ideen, subversivem Elan und witzigen Aktionen leisten sie auf ihre Weise Widerstand: Gegen die affirmative Musikberieselung des Konzerns setzen sie die subversive Kraft des Lärms. Lärm als Störklang. Offizielle Verlautbarungen sprechen von »Klangterror«, eine hohe Belohnung ist ausgesetzt. Eine zentrale Kundgebung stören die Untergrundkämpfer mit »Gegenschall«, die Rede eines Ministers wird konterkariert. Es gelingt ihnen, unbemerkt einen kritischen »hidden track« in einer an alle Haushalte verschickten Propaganda-CD zu platzieren. Das System ist blamiert. Der Fahndungsdruck wächst. Die Stunde der Erdbeeren scheint noch nicht gekommen …
An rufbeantworter als Akteure
Die begehbare Raum- und Klanginstallation von Helmut Mittermaier war Gegenstand einer Masterarbeit an der Universität der Künste Berlin, wo sie ab März 2009 vorgestellt wurde. Im April war sie nonstop bei der Langen Nacht der Theater in Berlin zu sehen und zu hören, im September wurde sie bei der Ars Electronica in Linz mit einer lobenden
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