Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
anderen etwas zu werfen. Dann klatscht er in die Hände, und es sieht aus, als würde er mit der offenen Hand Farbstrahlen verschießen. Das Spektakel dauert gute fünf Minuten, danach steht der Saal Kopf. Es sind fünf Minuten, die wie ein Blick in die Zukunft der Videospiele wirken. In eine Zukunft, in der Welten entstehen, die losgelöst sind von Controller und Sofa. Verantwortlich für all das ist der Mann auf der Bühne. Er heißt Tetsuya Mizuguchi, sein Spiel Child of Eden .
Mit diesen fünf Minuten beginnt die Pressekonferenz des französischen Videospielherstellers Ubisoft auf der E3 2010, der bedeutendsten Videospielmesse der Welt. Sie sollen zu einem der meistdiskutierten Ereignisse der Messe werden – was erstaunlich ist, hatte doch am vorigen Tag Microsoft zu
mäßigem Applaus die Technik vorgestellt, mit der Child of Eden am eindrucksvollsten funktioniert: Kinect. Grob vereinfacht besteht sie aus einer Kamera, die die Position von Spielern im Raum erkennen kann, und einem Mikrofon. Dieses System soll die Steuerung von Videospielen revolutionieren, sagt Microsoft, die das Gerät als Zubehör für ihre Xbox 360 verkaufen. Kinect ist eine Reaktion auf den japanischen Konzern Nintendo, der mit der Wii-Konsole, den bewegungsempfindlichen Wiimote-Controllern und den dazugehörigen Familienspielen die bestverkaufte Konsole der letzten Generation geschaffen hat. Jetzt möchte jeder mitmischen: Sony hat den Move-Controller herausgebracht, eine Art präzisere Wiimote im Eiswaffel-Format für die PlayStation 3, Microsoft die Kinect-Kamera.
E3 2010: Tetsuya Mizuguchi dirigiert sein neuestes Werk Child of Eden
Ein Jahr zuvor, auf der E3 2009, hatte die Firma die Technik, die damals noch unter dem Namen »Project Natal« lief, erstmals hinter
verschlossenen Türen vorgeführt. Neben beeindruckenden Demos zur Bewegungserkennung gab es eine spezielle Präsentation, die viele glauben ließ, die Zukunft der Spiele gesehen zu haben: Milo & Kate von Peter Molyneux, einem der bekanntesten Entwickler. Im Grunde geht es dabei nur darum, mit einem kleinen Jungen zu sprechen, der auf dem Bildschirm zu sehen ist. Doch der Junge reagiert auf das, was man sagt, folgt einem mit den Augen und verhält sich generell so lebensecht, dass man fasziniert hinter den Bildschirm schauen möchte, um nachzuforschen, ob es sich tatsächlich um ein Werk der Technik handelt oder ob sich irgendwo ein Schauspieler versteckt hält. Milo & Kate ließ schwärmen, hatte eine Vision und schien den Weg in eine Zukunft zu weisen, die bis dahin nicht vorstellbar war. 2010 ist »Project Natal« marktreif, wird mit einer quasi-religiösen Show der Tänzer des Cirque du Soleil als nächste Evolutionsstufe der Videospiele eingeführt und in Kinect umgetauft. Doch trotz allem Pomp enttäuscht das Gerät, denn die Spiele, die Microsoft zeigt, sind allesamt belanglos. Die Entwicklung von Milo & Kate ist längst eingestellt, übrig bleiben Partyspiele, wie man sie von Nintendos Wii überzeugender kennt. Aus einer visionären Technik ist ein weiteres Gerät zum Rumhampeln geworden. Das zumindest scheint nach der Microsoft-Pressekonferenz klar zu sein. Einen Tag später betritt Tetsuya Mizuguchi die Bühne und zeigt Microsoft, wie man es richtig macht.
Ein halbes Jahr nach der E3, im Winter 2010, gibt es erstmals die Möglichkeit, Child of Eden selbst zu spielen: in Tokio, bei Mizuguchi im Studio. Der Weg dorthin ist kompliziert, ohne Führer wäre man aufgeschmissen. Erst geht man vom Tokioter Bahnhof Meguro durch ordentliche kleine Straßen, überquert einen Kanal und bewundert die ordentlich designten Autos oder vielmehr ihre Besitzer dafür, wie sie durch diese Gassen manövrieren. Dann öffnet sich die Tür eines Backsteinhauses, das außen von einem großen Q mit Fragezeichen geschmückt wird. Man steigt ein enges Treppenhaus hinauf und gerät direkt ins Chaos: Computer reiht sich an Computer, an den Wänden hängen Unmengen von Bildern, Zeichnungen und Konzeptstudien, mit dem Kopf stößt man fast an die Decke, alles wirkt eng und gedrängt. In der Mitte des
Raumes sitzen fünf Männer mit Notebooks, jeder Zentimeter Platz scheint genutzt. Tetsuya Mizuguchi entschuldigt sich und geht voraus, in den Keller. Um sein Spiel zu zeigen, benötigt er etwas mehr Platz. Für Child of Eden braucht man einen freien Luftraum.
Mizuguchi trägt Strickjacke und Cordhose, bewegt sich langsam und spricht bedächtig. Sein Haar ist offenbar trotz
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