Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Fähigkeiten, das holografische Universum wahrzunehmen, bei dem das Kleinste stets mit dem Größten verbunden ist, mir plötzlich alles zeigen, was sie wissen; 5) Etwas, das im konventionellen Sinn kein intelligentes Lebewesen ist, sondern etwa eine andere Art denkendes System, zum Beispiel eine Maschine, redet mit mir (die VALIS-Option); 6) Gott redet mit mir; 7) Ich leide an einer endogenen Psychose; 8) Ich leide an einer medikamentös induzierten, also einer letztlich iatrogenen oder halluzinogenen (»psychedelischen«) Psychose.
Was der Text vielmehr, wenn wir ihn als Untersuchung der Borderline zwischen dem markierten Terrain der SF und ihrem unmarkierten Außen, der »höheren Wirklichkeit« lesen, die sie vorstellbar machen will, sagt, ist etwas, das nur auf den ersten Blick ähnlich aussieht wie die Reihe 1 bis 8 – nämlich: 1b) Es gibt Außerirdische; 2b) Es gibt Leute aus einer anderen Zeit, die den Graben überbrücken können, der Diachronie heißt; 3b) Es gibt eine andere Dimension oder mehrere, es gibt ein anderes Universum oder mehrere; 4b) Es gibt Fähigkeiten, entweder bei Philip K. Dick oder bei mehreren, womöglich allen Menschen, und mit denen kann man ein holografisches Universum wahrnehmen, bei dem das Kleinste stets mit dem Größten verbunden ist, und diese Fähigkeiten sind normalerweise von etwas oder jemandem
unterdrückt, aber in bestimmten Ausnahmesituationen lässt sich diese Unterdrückung aufheben; 5b) Es gibt intelligente Systeme, zum Beispiel Maschinen, die im konventionellen Sinn des Wortes keine Lebewesen sind, aber dennoch reden können, und zwar auch in Bildern; 6b) Es gibt Gott; 7b) Es gibt endogene Psychosen, die so stark sind, dass sie nicht allein zu schweren Wahrnehmungsstörungen führen, sondern auch den Denkapparat der von ihnen betroffenen Menschen in einer Weise in Mitleidenschaft ziehen, die diese Menschen auf Ideen wie 1b bis 6b bringen; 8b) Es gibt Medikamente oder illegale Drogen, die dasselbe können.
3. Science Fiction gegen literarische Fußgängerei
Der Unterschied zwischen der Reihe 1 bis 8 einerseits und der Reihe 1b bis 8b andererseits fällt für viele Menschen, die sich hauptberuflich, also etwa akademisch oder feuilletonistisch, mit sogenannter ernster, das heißt kanonischer, im Wesentlichen neuzeitlicher, also überwiegend bürgerlicher Literatur, manchmal immer noch »Hochliteratur« genannt, beschäftigen und deshalb wissen, was eine Metapher ist, eine Trope, eine uneigentliche Rede, ein sekundärer
oder abgeleiteter Sprechakt und so weiter, viel weniger ins Gewicht als für Leute, die Science Fiction ernst nehmen.
Leute, die Science Fiction ernst nehmen und deuten, sowie Leute, die sich aktiv als Autorinnen und Autoren in dieser Gattung bewegen, diesem Genre, dieser, wie Luhmann gesagt hätte, ausdifferenzierten Subkategorie der Literatur, haben ebenso wie Leute, die wissen, wie man diese Sachen liest, ein besonderes Verhältnis zu speziellen Metaphern, Tropen, Formen uneigentlicher, abgeleiteter, sekundärer Rede – sie nehmen sie wörtlich.
Besonders Personen, die sowohl kluge Kritiken, Monografien, historische Abrisse zur SF geschrieben als auch selber SF verfasst haben, also Leute wie Joanna Russ, John Clute, Samuel R. Delany oder Alexei Panshin, die sich sonst in Tausenden von Dingen uneins sind, werden seit Jahrzehnten nicht müde, den Literaturpriesterinnen und Priestern an Hochschulen und in Redaktionen zu erklären, dass SF nicht nur eine ganz besondere Art des Schreibens ist, einen festen Bestand an Requisiten (Raumschiffe, Zeitmaschinen etc.) und Stilfiguren nutzt, sondern (und wichtiger) eine besondere Art zu lesen ist.
Wenn in »ernster Literatur«, das heißt dem Zeug, das die Kanonwächterinnen und Nobelpreisjurys zur Kenntnis zu nehmen gewohnt sind, ein Satz steht wie: »Er legte sein Hirn auf den Tisch«, dann ist das eine Metapher, die man entschlüsseln soll nach Richtlinien wie: Da man so etwas nicht machen kann, wird damit wohl gesagt: »Er war zerstreut«, oder: »Er hörte auf, zu denken«, oder: »Er brachte jemandem oder etwas ein großes Opfer«. Das Nähere regelt dann jeweils der Kontext.
In einem SF-Text kann der Satz dagegen einfach wörtlich gemeint sein – da verrät dann der Kontext, ob es sich bei der
Sache um einen neuen biologischen Tatbestand bei einem Menschen oder den bedeutungsvollen Akt eines Nichtmenschen (zum Beispiel eines Roboters) handelt, ob die Bedeutung der Worte »er«, »legte«,
Weitere Kostenlose Bücher