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Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Titel: Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha u. a. Mamczak
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unmittelbar entschlüsseln zu können meinte.
    Der »pictorial turn« oder »iconic turn« (Gottfried Boehm), ein von den Bildwissenschaften, der akademischen Philosophie und anderen Sparten der Humanwissenschaften in den letzten zehn Jahren behaupteter gesamtkultureller Transformationsprozess, der die Bedeutungsproduktion und die Deutungsarbeit der Weltgesellschaft angeblich umstellt von Sätzen und ihrer Syntax auf Bilder und ihre suggestive Semantik, hat sich in Dicks Kopf also auf zwei Monate zusammengedrängt manifestiert. Was sich ihm da nach eigener Ansicht mitteilte, waren einerseits so umfassende Dinge wie die Natur der Menschheitsgeschichte überhaupt, andererseits so vergleichsweise nachrangige, für ihn persönlich aber lebenswichtige Angelegenheiten wie eine gefährliche Erkrankung seines kleinen Sohnes (weil der Prophet wusste, was los war, konnte das Kind tatsächlich gerettet werden).
    Philip K. Dick
    Anders als ein religiöser Sektierer oder ein gewöhnlicher Feld-, Wald- und Wiesenspinner zergliederte (und re-synthetisierte) Dick seine verstörenden Erfahrungen aber, wie gesagt, in zwei Strängen seiner literarischen Produktion: einerseits in allen Erzähltexten nach 1974, besonders fokussiert im 1978 geschriebenen, 1981 erschienenen Roman »VALIS« (das Akronym steht für »Vast Active Living Intelligent System«) sowie den Geschwisterbänden »The Divine Invasion« (1980 geschrieben, ein Jahr später erschienen) und »The Transmigration of Timothy Archer« (1981 geschrieben, abermals ein Jahr später erschienen); andererseits in einem viele Tausend Seiten umfassenden Konvolut von Papieren, die für Dick, wie gesagt, »The Exegesis« hießen. 1987 erschien eine erste Auswahl aus diesem Wörtertsunami unter dem etwas zu lauten, die feineren Verästelungen der Angelegenheit wegdrückenden Titel »Cosmogony and Cosmology«, 1991 dann eine etwas nüchterner arrangierte, als Text voller Widersprüche und voller Auswege, die einander nirgends im Weg stehen, genannt »In Pursuit of VALIS: Selections from the Exegesis« (die gibt es seit 2002 auch auf deutsch,
sie ist im Augenblick allerdings leider vergriffen). 2011 kam beim angesehenen Verlagshaus Houghton Mifflin schließlich die mit knapp 950 Seiten bisher umfangreichste, immer noch freilich nur auszugsweise Kompilation der durch das Prisma seiner 1974er Erfahrung gefilterten selbst- wie welterklärenden Anstrengungen des Schriftstellers als »The Exegesis of Philip K. Dick« heraus, eingerichtet von der Literaturkundlerin Pamela Jackson und dem Schriftsteller Jonathan Lethem, versehen mit Anmerkungen, Vorwort-Artigem, Nachwort-Artigem und diversen anderen Paratexten, vielleicht auch ein bisschen eingezäunt – angefertigt von nicht weniger als zehn Personen, zu denen ein Theologe, der SF-Autor Steve Erickson, ein Religionssoziologe und mehrere Literaturwissenschaftler gehören.
    Man kann also sagen, die Bestandteile jenes gewaltigen Projekts, dessen Binnenstruktur seinem Urheber selber nicht ganz klar sein konnte, weil es ja eben erst die Struktur sowohl der Welt wie seiner Welterfahrung freilegen (statt einfach setzen, erschaffen) sollte, wird seit 1987 ganz in derselben Weise veröffentlicht wie Luhmanns Porträt der neuzeitlichen sozialen Welt – nur dass es bei Dick eben die Nachwelt ist, die entscheiden muss, was hier Grundriss, was Einzeluntersuchung, was Material und was dessen Deutung ist. Die portionsweise Veröffentlichung der »Exegesis« versucht gewissermaßen nachzuholen, was Luhmann immerhin selbst veranstalten konnte: Die Beschaffenheit dessen, worüber nachgedacht wurde, in der Art und Weise sichtbar zu machen, wie dieses Gedachte Abteilung für Abteilung der Welt mitgeteilt wird.
     
    Ist die Dick’sche »Exegesis« aber wirklich ein Großentwurf möglicher Welten, als der sie erscheint, wenn man ihre verschiedenen Erklärungsansätze für die Vision, die Dick
gehabt hat, nicht als erkenntnistheoretische, sondern als ontologische Statements liest, was man bei einem der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren ja sicher darf? Sollte das so sein, dann sagt die »Exegesis« gerade nicht, was sie, liest man sie flüchtig, in mehreren Durchgängen abwechselnd zu sagen scheint, nämlich: 1) Außerirdische reden mit mir; 2) Leute aus einer anderen Zeit reden mit mir; 3) Leute aus einer anderen Dimension, einem anderen Universum, einer anderen Seinsebene reden mit mir; 4) Ich selbst rede mit mir, indem meine sonst unterdrückten

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