Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Ergänzung ein Schock, sie veränderte das visionäre Motiv eines Beobachters am Fenster in das revisionäre eines Bedrohten am Fenster. Moebius verstand es wie kein Zweiter, solche Effekte zu setzen, in seinen Zeichnungen eine Zukunft zu offenbaren, die im Zeichen eines archaischen Zeitalters steht.
Oder so eine Begegnung wie die im Jahr 2002 in Paris, wo er wohnte. Wir waren verabredet, um gemeinsam ein Buch vorzubereiten, das in der Anderen Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger erscheinen sollte, als erster Science-Fiction-Titel in dieser Reihe, selbst wenn davon nicht explizit die Rede war, denn für Enzensberger war es auch der
erste Comicband in seinem Programm, und das schien ihm revolutionär genug. Nun galt es also, typische Bilder auszuwählen, um die Bedeutung des Künstlers Moebius auch den Lesern der Anderen Bibliothek begreiflich zu machen, die zum größten Teil mutmaßlich noch nichts von dem französischen Zeichner gehört, geschweige denn gesehen hatten. Wobei sie seine Bilderwelten kannten, denn es ist unmöglich, im späten 20. Jahrhundert gelebt zu haben, ohne mit ihnen in Kontakt zu kommen; es sei denn, man hätte sich dem Kino oder den Illustrierten konsequent verweigert. Wann immer dort Imaginationen vom Leben auf anderen Planeten gezeigt wurden, entstammten sie dem Kopf und den Stiften von Moebius: Für Star Wars zog George Lucas dessen Szenenentwürfe für Alejandro Jodorowskys gescheiterte »Dune«-Verfilmung nach Frank Herberts Romanen heran, an den stilbildenden Science-Fiction-Filmen Alien , Tron , The Abyss oder Das fünfte Element arbeitete Moebius mit, und die Wirkung, die seine Comics Arzach , Die hermetische Garage , John Difool oder Die Sternenwanderer auf unsere Vorstellung von fremden Zivilisationen im All hatten, sind gar nicht zu überschätzen. Was wir als in unserer irdischen Beschränktheit Gefangene nicht denken können, das hat uns dieser Überirdische gezeigt. Moebius befreite unsere Phantasie, indem er sie an den Abgrund seiner eigenen führte. Und sie hineinstieß.
John Difool , seine sechsbändige Albenreihe um einen heruntergekommenen Privatdetektiv aus der Zukunft, der in ein kosmisches Komplott verwickelt wird, beginnt mit einem Sturz. Der Held fällt. Auf einer ganzen Seite zeichnet Moebius diese Szene, und am Schluss der Handlung, dreihundert Seiten später, werden wir an diesen Ausgangspunkt zurückgeführt – erst im neuen alten Absturz setzt die Erkenntnis ein, nachdem zuvor eine Abfolge wilder Ereignisse
dem Detektiv Hören und Sehen ebenso vergehen ließen wie den Lesern, die dem Ganzen zu folgen versuchten. Es gibt kein Ganzes bei Moebius, seine Kunst ist die des Fragments und der Ungebundenheit. Stürzen, Schweben, Fliegen, das sind jeweils zentrale Momente im Kosmos dieses Weltenschöpfers. Alles, was seinen Figuren und damit auch den Lesern den Boden unter den Füßen wegzieht, ist ihm willkommen. Und je schwerer er es ihnen und uns dabei macht, desto besser: Moebius war der Mann, der die fliegende Betonschwalbe erfand, einen schwebenden Anachronismus.
Und so passte es, dass ich Moebius an diesem Mittag im Paris des Jahres 2002 als Stürzendem begegnete. In dem schmalen Treppenhaus, das hoch hinauf zu seiner Wohnung im 6. Arrondissement führte, polterte er mir entgegen, wortlos eilte er vorbei, hinter ihm lag ein Familienstreit, der diesmal ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, sodass er alles vergessen hatte, was zwischen uns verabredet war. Eine Stunde brauchte er, um sich abzuregen, dann kehrte er zurück und war danach so charmant und konzentriert, als wäre nichts geschehen. Aber er kompensierte den missratenen Auftakt noch auf andere Weise: An diesem Tag zog er aus einer Schublade ein Notizbuch, in dem er während der letzten beiden Jahre den ersten Teil von Inside Moebius skizziert hatte, seine selbstironische Begegnung mit den eigenen Figuren und seinem jüngeren Ich. Niemand hatte diese Zeichnungen, die das Komischste und erzählerisch Gewagteste darstellen, was Moebius geschaffen hat, zuvor gesehen; es war sein Ausgleich für meine Enttäuschung, und wer hätte nicht eine verlorene Stunde gegen diesen Erzählschatz getauscht? So erschien der erste Teil von Inside Moebius zwei Jahre vor der französischen Erstveröffentlichung auf Deutsch in der Anderen Bibliothek, noch unüberarbeitet und unkoloriert unter dem ursprünglich geplanten Titel Fumetti , dem italienischen Wort für Comics.
Fumetti – Moebius’
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