Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
selbstironische Begegnung mit den eigenen Figuren
»Fumetti« heißt »Wölkchen«, und so werden auf Italienisch auch die Sprechblasen genannt. Und die gleichnamige neunzigseitige Selbsterforschung, die bis 2010 auf mehr als das Sechsfache anwachsen sollte, endete natürlich mit einem Flug. Moebius selbst ist es, der auf den letzten fünf Seiten von Fumetti Anlauf nimmt, erst zu stürzen scheint, doch dann abhebt und über dem Horizont einer jener Wüstenlandschaften verschwindet, die er zum Handlungsort seiner schönsten Geschichten bestimmt hat. Frei von allem. Es war ein Geschenk, diesen Comic lesen zu können, geschweige denn, ihn abzudrucken. Er zeigt Moebius vollkommen mit sich im Reinen. Zum ersten Mal in seiner Karriere.
Diese Karriere ist die Geschichte einer Spaltung. Moebius ist nur die eine Seite eines Künstlers, der zu viel konnte, um sich auf eine Sache allein zu beschränken. Also verdoppelte
er sich, doch damit zog auch die Spaltung in sein Leben ein. Wer war er wirklich? Moebius oder Jean Giraud?
1955 publizierte ein siebzehnjähriger Mann unter letzterem Namen seine ersten Illustrationen in einer längst vergessenen französischen Zeitschrift, deren Titel jedoch Programm sein sollte für das ganze Lebenswerk: Fiction . Die Erfindungsgabe des am 8. Mai 1938 geborenen Jean Giraud war damals schon groß, aber sie bordete endgültig über, als er noch im selben Jahr für acht Monate seiner Mutter nach Mexiko folgte. Das Scheidungskind, das seit 1941 bei den Großeltern aufgewachsen war, erlebte dort nicht nur erstmals die Freiheit der Eigenverantwortung – die Mutter kümmerte sich nur wenig um ihren Sohn –, sondern auch ein in jeder Hinsicht freies Land. Frei von Kriegszerstörungen, frei von prüder Moral, frei von europäischer Enge, eben frei von allem, was daheim in Frankreich das Leben einengte. Hier lernte Jean Giraud zum ersten Mal Drogen kennen, zum ersten Mal Sex und zum ersten Mal sich selbst als Künstler. Dieses Initialerlebnis schilderte er 1999 in seiner Autobiografie »Histoire de mon double« so:
»Das Auto fuhr durch die mexikanische Wüste nach Monterrey. Wir wollten über die Grenze. In alle Richtungen gab es nichts außer Kakteen und Staub. Eine erstickende ockerfarbene Wolke verfolgte uns. Beim ersten Halt bin ich ausgestiegen, um mir die Beine zu vertreten. Ich würde die Vereinigten Staaten in einem Zug durchqueren, die Nase an der Fensterscheibe. Auf der Suche nach ein bisschen Kühle und Wasser bin ich in eine Gaststätte am Straßenrand eingetreten. Die Hintertür war nicht geschlossen. Durch den leuchtenden offenen Rahmen im Halbschatten sah ich die sich bis zum Horizont erstreckende Wüste. Ein absolutes Bild. Dort habe ich mein Bündnis mit dem
Western geschlossen, mit der unendlichen Wüste und ihrem Zauber. Dieses unerhörte Gefühl, diesen Blitz, habe ich immer in meine Comics zu übertragen versucht.«
Die Erinnerung beschreibt einen Bruch, wie der Wechsel des Erzähltempus hörbar macht: vom Präteritum ins Perfekt und wieder zurück – vor der Erleuchtung steht die Vergegenwärtigung. Die Neue Welt gebiert eine neue Welt, ein Sehnsuchtsbild, das fortan Modell sein wird für das Werk eines der größten Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts, der sich aber selbst nie genug war. In der Wüste findet Jean Giraud, der sich später Moebius nennen soll, die unbeschriebene Folie vor, auf die er seine Visionen eintragen kann.
Zurück in Europa wird er 1956 jedoch erst einmal von seinem Heimatland in die Wüste geschickt: nach Algerien, wo er den Militärdienst ableistet. Diese Wüste aber lehrt ihn, dass das mexikanische Erlebnis nur in der Phantasie wiederholbar sein wird. Deshalb nimmt er nach dem Wehrdienst wieder Kontakt auf zu einem Mann, den er schon kurz vor seiner Mexikoreise besucht hatte: Jijé (im wahren Leben Joseph Gillain), jenen belgischen Comicveteranen, der als Mentor der größten Stars des französischsprachigen Nachkriegscomics gelten darf. Vor Jean Giraud hatte er schon die Belgier André Franquin, Maurice de Bevère alias Morris, Willy Maltaite alias Will und Eddy Paape entdeckt und ausgebildet. Und er erkannte 1955 auch sofort das Talent der beiden jungen Franzosen, die ihn damals aufsuchten, um sich nach den ersten Schritten zum professionellen Comiczeichnen zu erkundigen – begleitet wurde Jean Giraud damals von einem Freund, der sich zum zweiten großen französischen Science-Fiction-Comicvisionär entwickeln würde: Jean-Claude
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