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Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Titel: Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha u. a. Mamczak
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Nicht mehr die meist mit dem Pinsel schwungvoll ausgeführten Tuschelinien und -flächen, die in den Dreißigerjahren von Comiczeichnern aus den Vereinigten Staaten als Prinzip etabliert worden waren, galten als Vorbild, sondern die feine Strichführung mit der Feder, die den Bildern eine Leichtigkeit und Freiheit verlieh, die den Lesern Raum gab für die eigene Phantasie. Die berühmte Ligne claire von Hergé ist eher eine Ligne éclairée, eine aufgeklärte Linie, weil sie dem Betrachter eine Interpretationsleistung abverlangt, die das Bild erst vervollständigt. Sapere aude – das von Kant in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung« als Leitsatz benutzte
Horaz-Zitat trifft auch auf die Forderung der aufgeklärten Linie zu: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen, um zu verstehen, was hier gezeigt wird.
    Jean Giraud übernahm aber nicht die markanten formalen Elemente der Ligne claire – Verzicht auf Schatten, Reduktion der individuellen Züge von Figuren, strenge Konturzeichnung ohne Variation der Strichbreite (Giraud zeichnete Blueberry zunächst weiter mit dem Pinsel) –, sondern deren aufklärerischen Geist. Es ging ihm einmal mehr um die Freiheit: für sich als Zeichner durch einen assoziativen Strich und für den Leser als denjenigen, der diese assoziative Leistung nun selbst nachzuvollziehen hatte. Dafür aber wurde das Korsett von Blueberry langsam zu eng. 1973, zehn Jahre nach Beginn der Westernserie, zeichnete Jean Giraud für Pilote eine nur fünfseitige Geschichte, die zum zweiten Wendepunkt in seiner Biografie wurde. Bezeichnenderweise trägt sie den Titel La déviation  – die Umleitung.
    Sie gab seinem Leben und seiner Kunst eine völlig neue Richtung, und auch wenn er sie noch mit Gir signierte, der abgekürzten Form von Giraud, so enthält diese Geschichte erzählerisch bereits alles, was den Stil von Moebius ausmachen sollte. Ästhetisch dagegen scheint sie ein Rückschritt gegenüber der immer klarer gewordenen Linie zu sein, die in Blueberry mittlerweile herrschte. La déviation ist ein Fest der Variationen und Schraffuren; der Einfluss des amerikanischen Underground mit seiner Leitfigur Robert Crumb, der damals in Frankreich ungeheuer populär war, ist deutlich erkennbar. Fast dreidimensional stehen die Figuren auf dem Papier. Doch damit strebt Moebius keinen Realismus an, sondern eine surreale Unwirklichkeit, die das nachvollzieht, was die Geschichte erzählt: die Abkehr von dem, was man kennt, und die Ankunft in einer fremden, aber umso reizvolleren Welt.

    Sofort nach der Veröffentlichung von La déviation unterbrach der Zeichner die Arbeit an Blueberry für zwei Jahre und widmete sich in der dadurch gewonnenen Zeit ausschließlich der Fortführung seines neuen assoziativen Stils, für den er das alte Pseudonym Moebius wiederbelebte. Unter diesem Namen entstanden nun Comics, die sich nicht an etablierte narrative Muster hielten und die vor allem die altvertraute Welt hinter sich ließen – wie es La déviation ja vorerzählt hatte. Der Zeichner selbst hatte sich darin als Figur inszeniert: am Steuer eines Wagens, in dem er mit seiner Familie fährt. Eine ganz alltägliche Situation also, die dann aber ins Irreale kippt, als man von der Straße auf eine Umleitung geschickt wird, die in ein Wunder- und Schreckensland der Phantasie führt. Alle Grenzen sind aufgehoben, auch die zwischen den Panels, die Bilder schachteln sich ineinander, die Fahrt geht in eine pittoreske Wüstenwelt, ehe zum Schluss der Zeichner einen reflektierenden Blick auf sich selbst wirft: einmal als Souverän am Zeichentisch, dann als grotesker Clown auf einer Bühne. Was auf diese Weise die Struktur eines Albtraums aufzuweisen scheint, mündet aber schließlich in das triumphal inszenierte Panorama einer weiten Landschaft, deren bizarres Dekor nichts Irdisches mehr an sich hat. Die Geschichte endet also nicht mit der Rückführung des umgeleiteten Wagens auf die alte Strecke, sondern mit der Ankunft in einer neuen Welt. Achtzehn Jahre nach dem mexikanischen Erlebnis ist die Suche nach dem absoluten Bild abgeschlossen. Jean Giraud ist erwachsen geworden und Moebius neugeboren.
    Fortan sollten beide auf der Basis des absoluten Bildes weiterzeichnen. Der Riss in der Biografie aber war total. Nicht nur Blueberry wurde unterbrochen, Giraud verließ ein Jahr später auch seine publizistische Heimat Pilote , um mit den Redaktionskollegen Philippe Druillet, Jean-Pierre Dionnet und Bernard Farkas eine neue

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