Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
ich zurückgreifen kann. Und etwas, das die Leute ergänzen und gegebenenfalls korrigieren können, wenn ich irgendeinen Unsinn geschrieben habe. Ich denke, das ist einem klassischen Notizbuch weit überlegen. Nehmen Sie zum Beispiel meinen Roman »For the Win«: Natürlich habe ich zum Thema Gold Farming in Indien und China und so weiter recherchiert, als ich ihn geschrieben habe, aber das meiste an Recherche hatte ich bereits erledigt, bevor ich überhaupt daran dachte, den Roman zu schreiben. Das waren all die Informationshäppchen, die ich über Jahre in meinem Blog gesammelt und diskutiert habe – ohne eine klare Vorstellung zu haben, was daraus einmal werden könnte.
F: Ihr Blog ist also als eine Art Ideen-Labor? Sie posten dort etwas, und wenn es den Leuten gefällt, entwickeln Sie es weiter?
A: Nicht ganz. Ich poste dort etwas, und die Leute sagen: »Das ist ja ganz cool, aber schau mal, was es da noch gibt …« Es geht mir nicht darum, dass den Leuten irgendetwas gefällt, ich betreibe mit meinem Blog keine Marktforschung. Das ist vermutlich generell der größte Unterschied zwischen alten und neuen Medien, zwischen, sagen wir, Websites wie BoingBoing und Magazinen wie Wired . Magazine funktionieren
im Kern so: Wir haben hier eine Gruppe von Lesern, von denen wir annehmen, dass unsere Werbekunden sie erreichen wollen – welche Artikel könnten diese Leute interessieren? Bei BoingBoing dagegen läuft es so: Wir haben hier einige Sachen, die uns interessieren – und fragen uns, ob sie auch andere Menschen interessieren. Es gibt also keine angenommene Gruppe, die wir irgendwie »versorgen« wollen, sondern wir hoffen einfach, dass die Leser interessiert, was uns interessiert. Das ist ein subtiler, aber ziemlich wichtiger Unterschied. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der zuerst eine Auswahl getroffen und dann etwas publiziert wird, sondern es funktioniert genau andersherum.
F: Man fragt sich ja ohnehin, ob Sie sich eher als Schriftsteller, als Journalist oder als Internet-Aktivist definieren würden. Oder ist das alles eins?
A: Tatsächlich wüsste ich nicht, wie ich es voneinander trennen sollte. Wenn Sie im 21. Jahrhundert als Science-Fiction-Autor über das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft schreiben, sind Sie zwangsläufig ein Aktivist, ob Sie sich dessen nun bewusst sind oder nicht. Es inkorporiert nicht nur politische Themen, es erschafft zugleich auch eine politische »Erzählung«, die den Weg absteckt, wie Technik und Gesellschaft in der Zukunft zusammenwirken. Nehmen Sie etwa Paul Krugman, den Wirtschafts-Nobelpreisträger. Nach eigener Aussage ist er Ökonom geworden, weil er als junger Mann von Isaac Asimovs Foundation-Trilogie so fasziniert war. Das hat natürlich auch etwas Skurilles, aber was ich damit sagen will: Wenn Sie als Science-Fiction-Autor eine »Erzählung« schaffen – also den Rahmen abstecken, in dem eine technologische Gesellschaft debattiert –, ändern Sie auch die Art und Weise, wie sich diese technologische Gesellschaft tatsächlich entwickelt. In dieser Hinsicht ist Science Fiction zu schreiben immer ein politischer Akt. Ich wüsste
also wirklich nicht, wie ich meine Tätigkeiten voneinander trennen sollte. Ich könnte keine Romane schreiben, ohne gleichzeitig einen Blog zu führen.
F: Das ist vermutlich einer der Gründe, warum die Medien so stark an Ihnen interessiert sind.
A: Vermutlich. Natürlich ist da auch noch dieses postmoderne Element, dass der Autor in gewisser Weise ein Subjekt seiner eigenen Geschichten ist – was ja in der Science Fiction schon immer eine Rolle gespielt hat. Etliche Science-Fiction-Autoren hatten eine technische Ausbildung, und wenn Sie Asimov lesen, dann erkennen Sie dort ganz deutlich den Chemiker. Ein anderes Beispiel ist Robert A. Heinlein: Er hat ja ganz gezielt daran gearbeitet, Autor und Werk miteinander zu verschmelzen.
F: Steht am Anfang Ihrer Stories und Romane folglich immer eine bestimmte Idee, die sich zugleich auch für einen Essay oder einen Blog-Eintrag eignet?
A: Oft, aber nicht immer. Die fiktive Form ist ausgesprochen nützlich, wenn man technologische Vorgänge beschreiben will, die so allgegenwärtig sind, dass man sie kaum mehr wahrnimmt. Wie ein Arzt, der eine Speichelprobe in eine Petrischale gibt und beobachtet, was sich daraus entwickelt, nehmen Sie als Autor eine bestimmte Technologie, setzen diese in eine neue Umwelt – die Zukunft in Ihrer Geschichte –, entfernen also den
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