Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
»Mich hat interessiert, wie sich die Virtual-Reality-Brillen seit den Neunzigerjahren verändert haben.« Gar nicht, wie er zu seinem Entsetzen feststellte. »Dabei war doch das quasi-körperliche Erleben des Raumes einer der Träume, die wir von Anfang an hatten, es war einer der Gründe, warum ich mit dem Programmieren angefangen habe.«
Hochglanz-Horror: Doom 3
Gemeinsam mit mir ist ein englischer Kollege im Raum. Er bekommt einen unförmigen Klotz um den Kopf gebunden, seine Nase kann man nur erahnen, seinen Mund gerade noch sehen. Ein paar Momente wirkt er orientierungslos, dann beginnt er, sich umzublicken. Carmack flüstert: »Wenn das erste Monster kommt, wird er grinsen.« Und tatsächlich:
Der Kollege fängt an zu lächeln, schaut schnell hin und her, dreht den Kopf zur Decke, scheint in etwas versunken zu sein, das nur er sehen kann. Allerdings wird er jäh aus dem Spiel gerissen, als sich ein Klebeband löst, mit dem die Brille befestigt ist. Etwas benommen starrt er in die Runde, doch seine Augen leuchten.
»Als ich angefangen habe, mich mit Virtual Reality zu beschäftigen, war ich unzufrieden.« Brillen konnten ein Sichtfeld von höchstens 50 Grad darstellen und hatten eine lange Latenzzeit – was die Zeitspanne bezeichnet, die zwischen einer Bewegung und der Darstellung der Bewegung in der Brille vergeht. Beides war nicht akzeptabel und vor allem für Spiele nicht zu gebrauchen. »Ich habe alle Sachen auseinandergenommen und untersucht«, erzählt er. »Mein Büro sieht inzwischen aus wie das Labor eines verrückten Wissenschaftlers.« Die wichtigsten Probleme hat er gelöst. Die Latenzzeit ist gut, das Sichtfeld umfasst 110 Grad.
Wieder könnte man ihm stundenlang zuhören. Er benutzt Fachbegriffe, die neben ihm wahrscheinlich nur zwanzig Menschen auf der Welt verstehen, und findet es völlig normal, dass man mal eben das Betriebssystem einer VR-Brille umschreibt, indem man Code benutzt, den man vorher für die Steuerung einer eigenen Rakete geschrieben hat. Klar, würde doch jeder andere genauso machen. Carmack schafft es, seine Leidenschaft für die neue Technik zu vermitteln. Der begnadete Nerd weiß zu begeistern.
»Ich habe schließlich meine eigene Brille gebaut«, sagt er und präsentiert einen unförmigen Kasten, der mit Klebeband zusammengehalten wird; die Linsen wirken, als wären sie aus einer Kinderbrille entnommen. Das Ganze wurde von Hand zusammengeschraubt und mit Kabeln notdürftig mit einem kleinen Kasten verbunden. »In dem ganzen Aufbau
steckt Technik für rund 500 Dollar«, sagt Carmack. Sein Ziel: Daraus einen Baukasten zu machen, mit dem andere experimentieren und die Virtual-Reality-Technik voranbringen können. Auch den Code möchte er offenlegen. »Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten zwei Jahren großartige Dinge sehen werden.« Und dass vielleicht auch jemand das Gerät zur Serienreife bringt. »Ich stelle mir zum Beispiel eine Halle voller Menschen vor, die sich alle in einer anderen Welt befinden und mit- oder gegeneinander spielen.«
John Carmack bei der Präsentation seiner Eigenbau-Virtual-Reality- Brille
Endlich bin ich dran. Carmack verkabelt mich, setzt mir die Brille auf, reicht mir den Kopfhörer und drückt mir den Spielecontroller in die Hand. Auf einmal bin ich in einer anderen Welt, stehe in dem dunklen Gang einer Raumstation aus Doom 3 . Zuerst bewege ich die Kamera wie gewohnt mit dem Stick des Gamepads. Dann fällt mir ein, dass ich ja den Kopf bewegen sollte. Es funktioniert. Ich drehe den Kopf nach rechts und schaue so hinter eine Säule. Ich blicke um die Ecke und zucke zusammen, als ein Monster auftaucht. Es ist die perfekte Illusion – ein Blick in eine Welt, von der jeder träumt, der Spiele mag. Es ist das großartigste Spielerlebnis der letzten Jahre. Ich bin voll im Spiel und verfluche Carmack kurz, als er mir nach wenigen Minuten auf die Schulter klopft und mich aus der Welt von Doom 3 reißt. Ich will dorthin zurück. In die Zukunft der Spiele.
Carsten Görig, freier Journalist und Autor, schreibt regelmäßig für SPIEGEL Online über Computerspiele.
Auch wenn es längst zum Klischee geworden ist: Cory Doctorow ist wirklich ubiquitär. Der 1971 in Toronto geborene und inzwischen in London ansässige Autor und Journalist reist seit vielen Jahren rastlos um die Welt, besucht Conventions, hält Vorträge, liest aus seinen Büchern – und ist gleichzeitig ständig im Internet präsent: mit seinem Blog auf www.craphound.com
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