Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
ganzen Lärm der Gegenwart und schauen dann, was daraus wird. Das hat nichts mit einer Vorhersage zu tun, es ist einfach der Versuch, ein Vokabular zu finden, das hilft, dieses bestimmte Phänomen besser zu verstehen.
F: Ein Roman wie etwa »Little Brother« ist also, wenn man so will, der fiktionale Teil Ihrer Kampagne für mehr Freiheit im Internet. Oder ist es einfach eine Geschichte, die Sie unbedingt schreiben wollten?
A: Beides. Aber in erster Linie ist es ein Stück Kunst. Ich meine, ich habe keinen Zehn-Jahres-Plan oder so etwas, in dem genau festgelegt ist, wann ich was schreibe oder welche »Ratschläge« ich der Gesellschaft gebe. Ich schreibe, weil ich zum einen verdammt gerne schreibe und weil ich zum anderen eine bestimmte Ästhetik vermitteln will. Ich will, dass der Text einen ästhetischen Effekt auf den Leser hat – aus diesem Grund machen die Menschen ja seit Jahrhunderten Kunst. Dieser ästhetische Effekt hat fast immer eine politische Dimension, aber wenn es mir nur um die Politik gehen würde, würde ich eine Rede zu dem Thema halten oder eine Petition einreichen. Klar, es klingt immer ein bisschen anmaßend und dämlich, wenn man sich Künstler nennt – aber das ist es, was ich tue.
F: Und wie sind Sie zur Kunst der Phantastik gekommen?
A: Oh, dafür ist vermutlich in erster Linie meine Familie verantwortlich, die eine starke Neigung zu Science Fiction und Fantasy hatte. Mein Vater etwa war ein absoluter Conan-Fan und gleichzeitig Trotzkist. Als ich klein war, erzählte er mir also immer Conan-Geschichten und veränderte sie so, dass sie einen trotzkistischen Einschlag bekamen. Zum Beispiel ersetzte er Conan durch ein Trio – Harry, Larry und Mary –, und wenn die drei den bösen Schlangenkönig besiegt hatten, übernahmen sie nicht selbst die Herrschaft, sondern errichteten ein Arbeiterkollektiv. (Lacht) Da waren also überall Conan-Bücher bei uns zu Hause und Asimovs und Heinleins und »Alice im Wunderland« und so weiter – und die habe ich mir geschnappt. Ein ziemlich prägender Moment war auch, als 1977 Star Wars in die Kinos kam. Damals war ich sechs, und als Sechsjähriger hatten Sie in den Siebzigerjahren praktisch keinen Zugang zu komplexerem audio-visuellem Material. Es klingt ziemlich komisch, aber Star Wars war die erste »komplizierte« visuelle Geschichte, die ich gesehen
habe, und das setzte einen ungeheuren Denkprozess in Gang. Als wir nach der Kinovorstellung wieder daheim waren, tat ich, was alle Kinder tun, wenn sie etwas verstehen wollen: Sie versuchen es nachzubilden. Also nahm ich mir einen Stapel Papier und erzählte Star Wars nach. Immer und immer wieder, was einen Heidenspaß machte. Später dann entdeckte ich in der Schulbibliothek Daniel Pinkwater, einen großartigen Jugendbuchautor, dessen phantastische Geschichten einen enormen Einfluss auf mich hatten. In Toronto gab es auch die Spaced Out Library, die Judith Merril der Stadt gestiftet hat – heute heißt sie ganz offiziell Merril Collection –, und die wir mit unserer Klasse hin und wieder besuchten. Und die Bakka-Science-Fiction-Buchhandlung, wo ich Tanja Huff und viele andere Autoren kennenlernte und wo ich später selbst gearbeitet habe. Und ich habe natürlich meine eigenen Geschichten geschrieben. Ich weiß noch, wie ich mit vierzehn mit meiner ersten Story – also der ersten, von der ich auch überzeugt war, dass sie etwas taugte – zur Bakka gefahren bin und Tanja gefragt habe, ob sie sie lesen will. Und das hat sie wirklich gemacht und mir dann gesagt, was daran gut und was schlecht war. Das werde ich ihr nie vergessen. Für einen Science-Fiction-Fan war Toronto damals wirklich eine wunderbare Stadt – ich weiß nicht, was in einer anderen Stadt aus mir geworden wäre.
F: Und wann kamen Sie erstmals mit dem Internet – oder der Idee des Internets – in Kontakt? Anfang der Achtzigerjahre mit William Gibsons »Neuromancer« wie viele andere auch?
A: Nein, viel früher. Mein Vater war Informatiker, und wir hatten eines dieser Teletype-Terminals zu Hause, das mit anderen Terminals verbunden war. Und einen Acoustic Coupler, eine Datenverbindung, die ohne Bildschirm, sondern nur mit Telefon und Drucker funktionierte. Ich glaube, wir haben damals Myriaden an Papierrollen verbraucht. Das
war mein erster vernetzter Computer: Ich hatte einen E-Mail-Account, ich spielte darauf Computerspiele und schrieb eigene Programme. 1979 bekamen wir einen Apple II+ und 1980 ein Modem. Die
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