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der Terrasse, während er begeisterte Bemerkungen über den Romananfang abgibt, die mich ermutigen. Bei der Konstruktion des Kapitels über die Nacht der langen Messer hält er inne: Das schnelle Aufeinanderfolgen der Telefongespräche ist seiner Ansicht nach eine gelungene Repräsentation der bürokratischen Dimension und der Massenabfertigung bei Exekutionen, beides typische Kennzeichen des Nationalsozialismus. Ich bin geschmeichelt, doch mich überkommt ein Verdacht, den ich vorsichtshalber ausspreche: «Du weißt aber, dass sich jedes Telefongespräch auf einen echten Fall bezieht? Ich könnte dir fast alle Namen dazu finden, wenn ich wollte.» Überrascht antwortet er geradeheraus, er habe gedacht, ich hätte das nur erfunden. Leicht beunruhigt frage ich: «Auch, was Strasser angeht?» Heydrich, der sich höchstpersönlich hinbegibt und anordnet, den Sterbenden in seiner Zelle elend verenden zu lassen. Er dachte, das hätte ich ebenfalls erfunden. Leicht gekränkt rufe ich: «Es ist nicht erfunden, das ist alles wahr!» Und ich denke: Verflucht, das Spiel ist noch nicht gewonnen . Ich hätte mich deutlicher äußern sollen, was den Wahrheitsgehalt der Geschichte angeht.
Am gleichen Abend sehe ich im Fernsehen eine Dokumentation, die sich mit einem alten Hollywoodfilm über General Patton auseinandersetzt. Der Film trägt den nüchternen Titel Patton . Die Dokumentation besteht hauptsächlich aus Filmausschnitten; dazwischen werden Zeitzeugen interviewt, die erklären: «Eigentlich ist es gar nicht so passiert …» Patton habe nicht, wie im Film dargestellt, nur mit einer Pistole bewaffnet seine Airbase gegen zwei angreifende Messerschmitts verteidigt (wobei der Zeuge felsenfest davon überzeugt ist, dass er es getan hätte, wenn die Messerschmitts ihm die Zeit dafür gelassen hätten). Außerdem verbreitete Patton solcherlei Geschichten nie öffentlich, sondern, wenn überhaupt, nur im privaten Kreis. Diese spezielle Anekdote erzählte er jedoch nie. Er erfuhr nicht erst im allerletzten Moment, dass er nach Frankreich geschickt würde, sondern bekam mehrere Wochen im Voraus Bescheid. Er besetzte Palermo nicht entgegen dem Befehl seiner Vorgesetzten, sondern tat es mit der Zustimmung der alliierten Heeresführung und der seines direkten Vorgesetzten. Er sagte ganz sicher nicht zu einem russischen General, er solle sich zum Teufel scheren, auch wenn er die Russen nicht leiden konnte, etc. Kurz und gut, der Film berichtet über eine fiktive Gestalt, deren Leben erkennbar von General Pattons Karriere inspiriert wurde, die aber definitiv nicht ihn selbst darstellt. Trotzdem trägt der Film den Titel Patton . Und kein Mensch regt sich darüber auf. Jeder findet es völlig normal, die Realität zu verwischen, um die Handlung aufzupeppen oder um den Werdegang einer Person kohärent erscheinen zu lassen, deren wirklicher Lebensweg zweifellos mehr aus Zufällen denn aus schicksalhaften Begebenheiten bestand. Die Leute nehmen es mit der historischen Wirklichkeit alles andere als genau, Hauptsache, es klingelt in der Kasse. Dieser Tatsache habe ich es zu verdanken, dass mich ein langjähriger Freund, den die Vielzahl fiktionaler Beschreibungen so verdorben hat, dass er sich fatalerweise an das stillschweigende Verdrehen der Wirklichkeit gewöhnt hat, mit unschuldigem Erstaunen fragt: «Ach, das ist gar nicht erfunden?»
Nein, das ist nicht erfunden! Warum sollte man auch ausgerechnet beim Nationalsozialismus noch irgendetwas hinzudichten?
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Dass mich diese ganze Geschichte fasziniert, ist mittlerweile wohl jedem klar geworden; gleichzeitig scheint sie aber an meinen Nerven zu zerren.
Neulich hatte ich nachts einen Traum. Ich war ein deutscher Soldat und trug die grün-graue Uniform der Wehrmacht. In einer verschneiten Landschaft, die nicht zu identifizieren war, aber von Stacheldrahtzäunen begrenzt wurde, hatte man mich als Wachposten eingesetzt. Für dieses Bühnenbild waren zweifellos die zahlreichen Videospiele verantwortlich, mit denen ich mich zugegebenermaßen manchmal beschäftige und deren Hintergrund der Zweite Weltkrieg bildet: Call of Duty, Medal of Honor, Red Orchestra …
Auf meiner Runde wurde ich plötzlich von Heydrich höchstpersönlich überrascht, der auf Inspektion war. Augenblicklich stand ich stramm und hielt die Luft an, während er mit prüfendem Blick um mich herumschritt. Ich hatte eine Heidenangst, er könnte irgendetwas an mir auszusetzen haben. Doch bevor ich erfuhr, wie es
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