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weiterging, wachte ich auf.
Natacha zieht mich oft damit auf, dass ich eine beunruhigend große Anzahl an Werken über den Nationalsozialismus bei mir herumliegen hätte, die das Risiko einer ideologischen Bekehrung mit sich brächten. Um auf ihren Scherz einzugehen, erwähne ich jedes Mal die zahllosen Internetseiten, die von Leuten mit nationalsozialistischen Tendenzen oder sogar offenkundigen Neo-Nazis betrieben werden, über die ich bei meinen Recherchen stolpere. Nur um das klarzustellen: Ich als Sohn einer Jüdin und eines Kommunisten, der mit den republikanischen Werten des fortschrittlichsten Kleinbürgertums Frankreichs aufwuchs und der ich mich während meines Literaturstudiums mit dem Humanismus Montaignes, der Philosophie der Aufklärung, den Revolten der Surrealisten und existenzialistischem Gedankengut beschäftigte, war niemals versucht – und werde es auch nie sein –, mit irgendetwas zu «sympathisieren», das auch nur im Entferntesten mit dem Nationalsozialismus zu tun hat.
Doch einmal mehr überwältigt mich die unermessliche und verhängnisvolle Macht der Literatur. Tatsächlich ist mein Traum der offizielle Beweis dafür, dass Heydrich in seiner unbestreitbaren Eigenschaft als Romanfigur einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen hat.
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Anthony Eden, seit kurzem britischer Außenminister, ist sprachlos vor Erstaunen. Der neue tschechische Präsident, Edvard Beneš, offenbart ein verblüffendes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, was die Klärung der Sudetenfrage angeht. Er behauptet nicht nur, dem Bestreben der Deutschen, ihren Einfluss- und Herrschaftsbereich zu erweitern, Einhalt gebieten zu wollen, er glaubt zudem, dies ganz allein bewerkstelligen zu können, ohne die Hilfe Frankreichs und Großbritanniens. Eden weiß nicht, was er von dieser Ansprache halten soll. «Als Tscheche muss man heutzutage offensichtlich Optimist sein …», sagt er sich. Es ist erst 1935.
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1936 legt Major Moravec, der Chef des tschechoslowakischen Geheimdienstes, eine Prüfung ab, die ihn zum Oberstleutnant befördern soll. Neben anderen Aufgaben stellt man ihm folgende Frage, die auf einer hypothetischen Situation basiert: «Die Umstände führen dazu, dass Deutschland die Tschechoslowakei angreift. Ungarn und Österreich sind ebenfalls feindselig eingestellt. Frankreich hat seine Streitkräfte nicht mobilisiert, und die Kleine Entente kommt nur schwer in Gang. Welche militärischen Maßnahmen muss die Tschechoslowakei ergreifen?»
Kleine Bestandsaufnahme der politischen Lage: Seitdem Österreich-Ungarn 1918 geteilt wurde, schielen Wien und Budapest natürlich auf ihre ehemaligen Provinzen, genauer gesagt auf die ehemals von Österreich abhängigen Provinzen Böhmen und Mähren und auf die Slowakei, die unter ungarischer Kontrolle stand. Ungarn wird zudem von einem deutschfreundlichen Faschisten geführt, von Admiral Horthy. Das stark geschwächte Österreich widersetzt sich mehr schlecht als recht den Forderungen derjenigen, die auf beiden Seiten der deutschen Grenze den Wiederanschluss des Landes an den großen deutschen Bruder fordern. Der Vertrag mit Hitler, in dem er sich verpflichtet, sich nicht in die Angelegenheiten Österreichs einzumischen, ist nicht einmal das Papier wert, auf dem er geschrieben steht. Im Falle eines Konflikts mit Deutschland muss die Tschechoslowakei demnach beiden Kräften des zerfallenen Kaiser reiches entgegentreten. Die Kleine Entente wurde 1920 von der Tschechoslowakei und Jugoslawien als Schutzbündnis gegen die früheren Herrscher Österreich-Ungarns unterzeichnet. 1921 schloss sich Rumänien dem Bündnis an. Doch realistisch betrachtet, ist diese strategische Allianz nicht besonders abschreckend. Und das Zögern Frankreichs, seinen Verpflichtungen gegenüber dem tschechischen Alliierten im Konfliktfall nachzukommen, ist bereits offensichtlich. Die hypothetische Situation ist demnach äußerst realistisch. Moravecs Antwort besteht aus drei Worten: «Problem militärisch unlösbar.» Er besteht die Prüfung und wird Oberstleutnant.
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Wenn ich von jedem Komplott berichten wollte, in das Heydrich verwickelt war, würde ich kein Ende finden. Bei meinen Recherchen passiert es mir gelegentlich, dass ich über eine Geschichte stolpere, die ich nicht zu erzählen beschließe, sei es, weil sie mir zu anekdotenhaft vorkommt, weil mir Einzelheiten fehlen, weil es mir nicht gelingt, alle Puzzlestücke zusammenzufügen, oder weil mir die Geschichte zu heikel
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