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sie von gelegentlichen Krämpfen geschüttelt. Die ortsansässigen Deutschen versuchen, einen Aufstand vom Zaun zu brechen. Sie marschieren die Václavské náměstí entlang, die riesige Allee, die vom imposanten Nationalmuseum überragt wird. Die Provokateure sind auf Krawall aus, aber die tschechische Polizei hat die Anweisung erhalten, nicht einzuschreiten. Die Gewalttätigkeiten, Plünderungen und der Vandalismus derjenigen, die auf die Ankunft ihrer nationalsozialistischen Brüder warten, sind Kriegsschreie, die in der stillen Stadt ohne Widerhall verklingen.
Allmählich senkt sich die Nacht über die Stadt. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen von Prag. Nur ein paar aufgestachelte Jugendliche werfen den Polizisten, die um das Deutsche Haus herum Posten bezogen haben, noch Beleidigungen zu. In der Altstadt, an der astronomischen Uhr, zieht das kleine Skelett wie eh und je Stunde um Stunde an seiner dünnen Schnur. Es schlägt Mitternacht. Das charakteristische Quietschen der hölzernen Fensterläden ist zu hören, doch ich wette, dass an diesem Abend niemand die Ruhe hat, die Prozession der kleinen Automaten zu betrachten, die in die filigranen Eingeweide des Turms zurückkehren, wo sie wahrscheinlich in Sicherheit sind. Ich stelle mir vor, wie Rabenschwärme die Tyn-Kirche umkreisen, die düstere Kathedrale, die mit ihren unheilverkündenden gezackten Türmen einen wehrhaften Eindruck macht. Unter der Karlsbrücke fließt die Vltava. Unter der Karlsbrücke fließt die Moldau. Der friedliche Fluss durchquert Prag unter zwei verschiedenen Namen, einem tschechischen und einem deutschen – auch das ist zweifellos symptomatisch.
Die Tschechen sind aufgewühlt und finden kaum Schlaf. Noch hoffen sie, dass weitere Zugeständnisse den Appetit der Deutschen stillen können – doch welche Zugeständnisse haben sie noch nicht gemacht? Um den Wüterich Hitler zu besänftigen, zählen sie auf die Unterwürfigkeit ihres Präsidenten Hácha. Ihr Widerstandswille wurde in München durch den Verrat Frankreichs und Englands gebrochen. Der nationalsozialistischen Kriegslust haben sie nur noch ihre Passivität entgegenzusetzen. Als Überbleibsel der Tschechoslowakei erhoffen sie sich lediglich, eine kleine, friedliche Nation werden zu dürfen, doch der Wundbrand, der vor Jahrhunderten von Ottokar II. Přemysl übertragen wurde, hat das gesamte Land erfasst. Die Amputation des Sudetenlandes wird daran nichts ändern. Vor dem Morgengrauen werden im Radio die Bedingungen des Übereinkommens zwischen Hácha und Hitler bekannt gegeben. Es handelt sich schlicht und ergreifend um eine Annexion. Die Neuigkeit schlägt in jedem tschechischen Haushalt wie eine Bombe ein. Der Tag hat noch nicht begonnen, und schon kursiert in den Straßen ein Gerücht, das sich in ein Stimmengewirr verwandelt und schließlich zu einem allgemeinen Tumult steigert. Nach und nach kommen die Menschen aus ihren Häusern hervor. Einige haben einen kleinen Koffer dabei: Sie eilen zu den Botschaften, wo sie um Asyl bitten, das ihnen im Allgemeinen verweigert wird. Es wird von ersten Selbstmordfällen berichtet.
Dann dringt um neun Uhr der erste deutsche Panzer in die Stadt ein.
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Tatsächlich weiß ich nicht, ob wirklich ein Panzer als Erstes in Prag einfuhr. Wie es scheint, bildeten in erster Linie Motorräder mit Beiwagen die Vorhut.
Um neun Uhr gelangen jedenfalls motorisierte deutsche Soldaten in die tschechische Hauptstadt. Dort treffen sie zunächst auf die ortsansässigen Deutschen, von denen sie als Befreier gefeiert werden, und die nervöse Anspannung, die seit Tagen von ihnen Besitz ergriffen hat, fällt von ihnen ab. Doch die Reaktion der Tschechen fällt anders aus; sie ballen die Fäuste, rufen feindselige Parolen und singen ihre Nationalhymne, was die deutschen Soldaten wieder beunruhigt.
Eine dichtgedrängte Menschenmenge versammelt sich auf der Václavské náměstí, der tschechischen Entsprechung der Champs-Élysées, und auf den Hauptverkehrsadern der Stadt versperrt die Masse der Demonstranten schon kurze Zeit später den Wagen der Wehrmacht den Weg. In diesem Moment wissen die Deutschen nicht so recht, worauf sie sich gefasst machen müssen.
Von einem wirklichen Aufstand jedoch kann nicht die Rede sein: Um ihr Missfallen auszudrücken, müssen sich die Aufständischen damit begnügen, die Eindringlinge mit … Schneebällen zu bewerfen.
Die vordringlichsten strategischen Knotenpunkte werden mühelos besetzt: der Flughafen,
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