Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
HHhH

HHhH

Titel: HHhH Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Binet Laurent
Vom Netzwerk:
dummer Schuljunge in die Ecke gestellt. Er verdankt es einzig seinem bemerkenswerten Überlebensinstinkt, dass er nicht gleich liquidiert wird. Daher gibt er sich nach diesem bedauerlichen Zwischenfall große Mühe, in Vergessenheit zu geraten. Es hätte ihn deutlich teurer zu stehen kommen können, sich über Heydrich lustig gemacht zu haben, über Heydrich, seinen Chef, Himmlers rechte Hand, Nummer zwei der SS, Leiter des RSHA, des SD und der Gestapo, Heydrich, die blonde Bestie, der diese Bezeichnung sowohl wegen seiner Grausamkeit als auch wegen seiner sexuellen Vorlieben gleich doppelt verdient hat. Oder ihn in puncto Liebesspiel gerade nicht verdient hat, wie sich Naujocks insgeheim denkt, wenn er gerade nicht von Angst geschüttelt wird.

102
    Der vorangehende Dialog ist ein Paradebeispiel für die Schwierigkeiten, mit denen ich mich konfrontiert sehe. Flaubert hatte diese Probleme bei Salammbô sicherlich nicht, da niemand die Gespräche von Hannibals Vater Hamilkar schriftlich festgehalten hatte. Wenn ich Heydrich sagen lasse: «Wenn Sie glauben, Sie können sich über mich lustig machen, Naujocks, überlegen Sie sich das besser zweimal», berichte ich damit nur das, was Naujocks gehört haben will. Um einen Satz wiederzugeben, kann man sich eigentlich keinen besseren Zeugen wünschen als den direkten Gesprächspartner, an den die Worte gerichtet waren und der sie mit eigenen Ohren gehört hat. Dennoch bezweifle ich, dass Heydrich seine Drohung auf diese Art formulierte. Es ist einfach nicht sein Stil; es sind Naujocks’ Erinnerungen an einen Jahre zuvor geäußerten Satz, den nicht einmal er selbst niederschrieb, sondern jemand, der seinen Zeugenbericht zu Papier brachte. Und schon erscheint es einem blödsinnig, wenn Heydrich, die blonde Bestie, der gefährlichste Mann des Reiches, sagt: «Wenn Sie glauben, Sie können sich über mich lustig machen, Naujocks, überlegen Sie sich das besser zweimal.» Viel wahrscheinlicher ist es, dass Heydrich als der unflätige und machtverliebte Mensch, der er nun einmal war, noch dazu stinksauer, Naujocks entgegenschleuderte: «Wollen Sie mich verarschen? Passen Sie bloß auf, oder ich reiße Ihnen die Eier ab!» Doch welchen Stellenwert hat meine Vision gegenüber den Erinnerungen eines Augenzeugen?
    Hätte ich völlig freie Hand, würde ich Folgendes schreiben:
    «Naujocks, wo war ich letzte Nacht?»
    «Wie bitte, Herr Gruppenführer?»
    «Sie haben meine Frage ganz genau verstanden.»
    «Nun … ich weiß es nicht, Herr Gruppenführer.»
    «Sie wissen es nicht?»
    «Nein, Herr Gruppenführer.»
    «Sie wissen nicht, dass ich bei Kitty war?»
    «…»
    «Was haben Sie mit der Aufnahme gemacht?»
    «Ich verstehe nicht, Herr Gruppenführer.»
    «Hören Sie auf, mich zu verarschen! Was Sie mit der Aufnahme gemacht haben, habe ich gefragt!»
    «Herr Gruppenführer … ich wusste nicht, dass Sie dort waren! … Niemand hatte mich davon unterrichtet! Selbstverständlich habe ich die Aufnahme unverzüglich vernichtet, als ich Sie erkannt habe … ich meine, als ich Ihre Stimme erkannt habe! …»
    «Hören Sie auf, hier den Idioten zu spielen, Naujocks! Sie werden dafür bezahlt, alles zu wissen, insbesondere, wo ich bin, schließlich bin ich derjenige, der Sie bezahlt! In dem Augenblick, in dem ich bei Kitty ein Zimmer nehme, schalten Sie die Mikrophone aus! Wenn Sie noch einmal versuchen, mich zu verarschen, schicke ich Sie nach Dachau, wo man Sie an den Eiern aufhängt! Habe ich mich klar ausgedrückt?»
    «Glasklar, Herr Gruppenführer.»
    «Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel!»
    So wäre dieser Dialog meiner Ansicht nach ein wenig realistischer, ein wenig lebhafter und vermutlich näher an der Wahrheit. Doch ganz sicher bin ich mir nicht. Heydrich konnte ordentlich unflätig sein, doch er verstand sich auch darauf, den eiskalten Bürokraten zu spielen, wenn es erforderlich war. Doch wenn es letztlich darum geht, zwischen Naujocks und meiner Version eine Wahl zu treffen, ist es sicherlich angebrachter, sich für Naujocks’ Variante zu entscheiden, selbst wenn sie ein wenig verfälscht wurde. Trotzdem bin ich nach wie vor überzeugt, dass Heydrich ihm an jenem Morgen verdammt gerne die Eier abgerissen hätte.

103
    Aus einem der hohen Fenster im Nordturm der Wewelsburg betrachtet Heydrich das Almetal. Inmitten des Waldes erblickt er die Baracken und die Stacheldrahtzäune des kleinsten Konzentrationslagers in Deutschland. Vielleicht ist er mit den Gedanken aber

Weitere Kostenlose Bücher