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HHhH

HHhH

Titel: HHhH Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Binet Laurent
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splitternackt an den Rand einer gigantischen Schlucht geführt. Dort ließen selbst die gutgläubigsten oder optimistischsten unter ihnen alle Hoffnung fahren. Von Todesangst gepackt, begannen sie zu schreien. Am Boden der Grube stapelten sich Leichname.
    Doch die Geschichte dieser Männer, Frauen und Kinder endet noch nicht direkt am Rande dieses Abgrunds. Vermutlich aus einem Anfall deutscher Tüchtigkeit heraus ließen die SS ihre Opfer zunächst in die Schlucht hinuntersteigen, bevor sie sie erschossen. Dort wurden sie von einem «Packer» in Empfang genommen. Seine Arbeit ähnelte beinahe in jedem Punkt dem einer Platzanweiserin im Theater. Er führte jeden Juden zu einem Stapel Leichname, und wenn er einen Platz für ihn gefunden hatte, befahl er dem Juden, sich bäuchlings und nackt auf die ebenfalls entkleideten Leichen zu legen. Dann kam einer der Schützen über die Leichenberge hinweg anmarschiert und tötete den Juden mit einem Genickschuss. Taylorismus beim Massenmord. Am 2. Oktober 1941 berichtet die Einsatzgruppe von Babi Yar: «Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments Süd am 29. und 30. September 1941 in Kiew 33 771 Juden exekutiert.»

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    Ich habe von einer außergewöhnlichen Geschichte gehört, die sich während des Krieges in Kiew abspielte. Sie ereignete sich im Sommer 1942 und hat keinen Bezug zu den Akteuren der Operation «Anthropoid»; von daher hat sie in meinem Roman eigentlich nichts zu suchen. Doch ein großer Vorteil dieser Gattung besteht darin, dass sie dem Erzähler beinahe uneingeschränkte Freiheiten lässt.
    Im Sommer 1942 steht die Ukraine unter nationalsozialistischer Verwaltung, die mit der ihr charakteristischen Brutalität vorgeht. Trotzdem beabsichtigen die Deutschen, Fußballspiele zwischen den unterschiedlichen okkupierten oder zu Satellitenstaaten degradierten Oststaaten zu organisieren. Schon kurze Zeit später tut sich eine Mannschaft hervor, die einen Sieg nach dem anderen gegen die rumänischen und ungarischen Gegner einfährt: der FC Start, der in aller Eile aus den Überbleibseln des verblichenen Dynamo Kiew zusammengesetzt worden war. Der Fußballverein war zu Beginn der Okkupation zwangsweise aufgelöst worden, doch für die Gelegenheit trommelte man die Spieler wieder zusammen.
    Als der Erfolg der Mannschaft den Deutschen zu Ohren kommt, beschließen sie, eine Prestige-Begegnung zwischen der lokalen Mannschaft und dem Team der Luftwaffe auf die Beine zu stellen. Die ukrainischen Spieler sind angehalten, bei der Präsentation der Mannschaften den Hitlergruß auszuführen.
    Am Tag des Spiels strömen die Spieler beider Mannschaften ins vollbesetzte Stadion. Die deutschen Spieler recken den Arm in die Höhe und skandieren: «Heil Hitler!» Auch die ukrainischen Spieler heben den Arm – sehr zur Enttäuschung des Publikums, das in dem Spiel die Gelegenheit zu einer symbolischen Demonstration des Widerstands wähnte. Doch anstatt den Hitlergruß auszuführen, beugen die ukrainischen Spieler den Arm, führen ihn mit geballter Faust zum Oberkörper zurück und rufen: «Es lebe die Körperkultur!» Dieser durch und durch sowjetische Slogan bringt das Publikum zum Rasen.
    Das Spiel hat kaum begonnen, als ein ukrainischer Stürmer sich durch den Einsatz eines deutschen Spielers auch schon das Bein bricht. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine Auswechselspieler. Der FC Start muss das Spiel also zu zehnt bestreiten. Dank der zahlenmäßigen Überlegenheit gehen die Deutschen zunächst in Führung. Es sieht schlecht aus. Doch die Spieler von Kiew lassen sich nicht unterkriegen. Unter dem Jubel der Masse holen sie den Punktestand auf. Dann schießen sie ein zweites Tor, und das Stadion tobt.
    In der Halbzeit stattet Generalmajor Eberhard, der Stadtkommandant von Kiew, den ukrainischen Spielern einen Besuch in der Umkleidekabine ab und hält folgende Ansprache: «Bravo, Sie haben hervorragend gespielt, und wir haben es genossen. Allerdings müssen Sie jetzt, während der zweiten Halbzeit, verlieren. Um jeden Preis! Die Mannschaft der Luftwaffe hat noch nie verloren, schon gar nicht auf besetztem Gebiet. Das ist ein Befehl! Wenn Sie das Spiel nicht verlieren, werden Sie exekutiert.»
    Schweigend nehmen die Spieler die Botschaft entgegen. Zurück auf dem Spielfeld, treffen sie nach einem kurzen Moment des Wankens, ohne sich abzusprechen, eine Entscheidung: Sie werden spielen. Sie schießen ein Tor, dann das

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