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Entrüstung begleiteten: Vielleicht wurde er puterrot (so stelle ich ihn mir vor), vielleicht wurde er aber auch aschfahl. Kurz gesagt, die Angelegenheit erscheint mir äußerst ernst.
Natacha gegenüber verteidige ich mich aber zunächst beleidigt: Es ist wahrscheinlicher, dass Himmler fast der Kopf platzte, und davon abgesehen ist die Geschichte vom anschwellenden Hirn nur eine etwas billig geratene Metapher für die Angst, die ihn nicht mehr loslässt, seit er die Nachricht erhalten hat. Doch ich finde es selbst nicht sehr überzeugend. Tags darauf streiche ich den Satz. Unglücklicherweise entsteht dadurch eine unangenehme Leere. Ich weiß selbst nicht so genau, warum, mir gefällt einfach die abrupte Aufeinanderfolge von «Es trifft Himmler wie ein Schlag ins Gesicht.» und «Gerade hat er die Neuigkeit erfahren» nicht; irgendwie fehlt die Verbindung, die meine Hirnschale zuvor bildete. Daher sehe ich mich gezwungen, den durchgestrichenen Satz durch einen anderen, vorsichtigeren zu ersetzen. Ich schreibe so etwas wie: «Ich stelle mir vor, dass die Farbe seines bebrillten Nagergesichts in Rot umgeschlagen sein muss.» Es stimmt, dass Himmler ein Nagergesicht besaß – mit seinen Hängebacken und dem Schnauzbart –, doch diese Formulierung ist natürlich alles andere als nüchtern. Also beschließe ich, «bebrillten» zu streichen. Aber die Wirkung, die das «Nagergesicht» hervorruft, stört mich selbst ohne das Attribut der Brille. Allerdings sehe ich auch die Vorteile dieser extrem vorsichtigen Formulierung: «Ich stelle mir vor», «sein muss». Indem ich meine Hypothese ganz klar als eine solche kennzeichne, befreie ich mich von jeglichem zwanghaften Bemühen um Realismus. Ich weiß nicht, warum, doch ich sehe mich gezwungen hinzuzufügen: «Er lief puterrot an.»
Ich hatte mir Himmler nun einmal mit hochrotem Gesicht vorgestellt, so, als wäre er stark erkältet (vielleicht, weil ich mich seit vier Tagen selbst mit einer Mordserkältung herumschlage), und meine tyrannische Vorstellungskraft will einfach nicht davon ablassen: Ich wollte unbedingt ein solches Detail über das Gesicht des Reichsführers erzählen. Doch auch dieses Ergebnis gefiel mir ganz und gar nicht: Ein weiteres Mal löschte ich alles. Lange starrte ich auf die abgrundtiefe Leere zwischen dem ersten und dritten Satz. Und schließlich begann ich ganz langsam wieder zu tippen: «Ihm steigt das Blut in den Kopf, und er spürt, wie sein Gehirn in der Hirnschale anschwillt.»
Ich denke an Oscar Wilde, es ist doch immer dasselbe: «Ich habe den ganzen Vormittag an der Korrektur eines Textes gearbeitet und letztlich nur ein Komma gestrichen. Am Nachmittag habe ich es wieder eingefügt.»
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Heydrich sitzt im Fond seines schwarzen Mercedes – zumindest stelle ich es mir so vor – und hat die Aktentasche auf seinem Schoß fest im Griff, denn darin befindet sich das zweifellos entscheidendste Dokument seiner Karriere und der Geschichte des Dritten Reiches. Das Auto fährt durch die Außenbezirke Berlins. Draußen ist schönes Wetter, es ist Sommer, bald wird der Abend hereinbrechen, und man kann sich nur schwerlich vorstellen, dass der Himmel dann von schwarzen Schwärmen überzogen sein wird, die Bomben abwerfen. Dennoch zeugen einige zerstörte Gebäude, einige in Trümmern liegende Häuser und einige vorbeieilende Passanten vom erbitterten Einsatz der Royal Air Force.
Vor über vier Monaten ließ Heydrich Eichmann die Rohfassung des Dokuments erstellen, das er Göring vorlegen und von ihm absegnen lassen will. Doch zunächst musste er das Einverständnis des designierten Ministers für die Ostgebiete, Rosenberg, einholen. Und ausgerechnet diese Null stellte sich quer. Eichmann legte sich daraufhin ordentlich ins Zeug und formulierte den Text um, sodass jetzt eigentlich nichts mehr schiefgehen dürfte.
Wir befinden uns mitten im Wald, im Norden von Berlin. Der Mercedes hält vor dem Eingangsportal einer Villa, die von schwerbewaffneten SS-Männern bewacht wird. Es handelt sich um den kleinen barocken Palast Karinhall, den Göring erbauen ließ, um sich über den Tod seiner ersten Frau hinwegzutrösten. Die Wachen salutieren, das Tor öffnet sich, der Wagen rollt durch die Allee. Göring steht bereits auf dem Rasen, gut gelaunt und in eine seiner exzentrischen Uniformen gezwängt, die sicherlich für seinen Beinamen «der parfümierte Nero» mitverantwortlich sind. Er begrüßt Heydrich überschwänglich, überglücklich, den
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