Hi, Society
erkannt.
Er setzte sich. Angespannt las er ihre Zeilen, während er nervös mit seinem gelbgoldenen Ehering spielte.
Was war bloß in sie gefahren? Warum um alles in der Welt verhielt sie sich so sonderbar?
Ihr Leben lang hatten sie sich aufeinander verlassen. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt. Sie waren viel mehr als bloß Cousin und Cousine. Sie waren Verbündete, Seelenverwandte. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sie ihm derart in den Rücken fallen würde. Sie jemals eine solche Bedrohung für ihn werden könnte.
Gedankenversunken stand er auf. Er öffnete die Doppelflügel der hohen Fenster und sah hinaus in den Burggarten. Die Luft, die in sein dunkles mit Antiquitäten überfülltes Arbeitszimmer drang, sie war klar und frisch. Sie roch nach dem unter seinem Fenster blühenden weißen Flieder, nach Aufbruch und Sorglosigkeit. Ein Gefühl, das er schon lange Zeit nicht mehr in sich verspürt hatte. Er blickte noch einmal auf die Blätter in seiner Hand. Dann ließ er sie in den stählernen Papierkorb fallen und entzündete ein Streichholz.
Sein ganzes Leben lang war er für sie dagewesen. Er hatte sich für sie verantwortlich gefühlt, sie mit Vladimir bekannt gemacht. Zum Teufel, er hatte ihr das Leben gerettet, in jenem Sommer, nach Lars’ Tod.
Er hätte sie sterben lassen sollen, dachte er, während er das Streichholz fallen ließ.
›Wer regieren will, muss reagieren‹, das war einer seiner Wahlsprüche. Bereits kommenden Donnerstag würde seine Partei ihn als Spitzenkandidat für die kommende Bundeskanzlerwahl vorschlagen. Sein Leben lang hatte er darauf hingearbeitet.
Das Feuer im stahlgrauen Papierkorb loderte höher. Langsam färbten sich die Blätter schwarz.
Seinem Erfolg stand nun nichts mehr im Wege. Oder präziser gesagt, niemand. Marie von Stetten war tot und die einzigen Zeilen, die ihn in Bedrängnis bringen konnten, ruhten in Frieden.
KAPITEL 8
»T
ot! So ein junger Mensch! Eine Schande ist das«, sagt meine Mum, einen Milchkaffee und einen Riesengermknödel später, während ich frustriert die Absage meines Vaters, seines Zeichens Gerichtsmediziner, mir ein Obduktionsergebnis von Marie zu besorgen, hinunterschlucke und meine Mum, die eben aus dem Backrohr geholten, herrlich duftenden Vanillekipferl mit weißem Staubzucker bestreut.
»Also ich glaube nicht an einen plötzlichen Herzstillstand«, sagt sie, schüttelt energisch den Kopf und der Staubzucker rieselt auf die Tischplatte. »Das riecht doch förmlich nach einem Anschlag. Ja, wie bei Felix und Emma. Diese hinterhältige Rosalie –«
»Mum das ist nicht ›Sturm der Liebe‹ oder ›Wege zum Glück‹ oder sonst was. Keine deiner Seifenopern. Das ist das wirkliche Leben.«
Und das war ehrlich gesagt hart genug, das wirkliche Leben. Seit Maries Ableben hat die Patientenzahl meiner Praxis in etwa den selben Stand wie ein griechisches Bankkonto – keine Ahnung, ob die Leute meinen, alle meine Patienten ereilt das gleiche Schicksal wie Marie – und wenn nicht bald ein Wunder geschieht, dann werde ich wohl meine weitere Zukunft damit zubringen herauszufinden, ob Melatonin tatsächlich ein wirksames Anti-Aging-Mittel ist. Da ich mir angesichts dieser Umstände bald keine Anti-Falten-Creme mehr leisten kann, aber dafür viel Schlaf, weil null Arbeit – das nennt man, glaube ich, angewandte Beauty-Ökonomie.
»Und du denkst, dass das wirkliche Leben so viel anders ist?«
Ich geb’s auf. Da ist es ja leichter, Lagerfeld ein adäquates Sprechtempo beizubringen. Der Cop im Fernsehen hatte es selbst gesagt, keinerlei Substanzen im Blut. Kein Hinweis auf ein Verbrechen. Punkt. Davon versuche ich mich übrigens auch schon die letzten Tage zu überzeugen. Weil sich diese ganze Marie-Sache nämlich schön langsam zu einer fixen Idee entwickelt.
Wissen Sie, es ist wie mit diesem Socken-in-Sandalen-Style. Es mag ja auf den ersten Blick ganz gut aussehen, am Laufsteg von Dior und an den Füßen von Alexa Chung, aber bei näherer Betrachtung und wenn Sie nicht die Storchenbeine von Ella Fanning haben, passt es dennoch nicht. Im Grunde ist es mit Marie von Stettens Ableben wie mit diesem Catwalk-Trend. Ich glaube einfach nicht daran. Okay, es gibt keinen Mord, keine Mordwaffe, keine Mordverdächtigen, aber dafür gibt es genügend Leute, die gute Gründe gehabt hätten, sie umzubringen.
»Wer kriegt denn jetzt ihre Rolle?« Meine Mum holt zwei blau-gemusterte Teller aus dem Küchenschrank und verteilt
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