Hi, Society
oder?
»Vielversprechend«, lüge ich weiter.
Na servus!
»Darf ich mal sehen?« Er lugt interessiert auf mein buntes Erhebungsblatt und will eben danach greifen, als ich die Mappe im letzten Moment an mich reiße. »Tut mir leid. Die sind noch streng geheim. Im Auftrag der Wissenschaft. Sie verstehen.«
Er nickt und ich greife überstürzt zu meiner Tasse. Ich muss mich jetzt irgendwo festhalten. Mein Herz pocht so wild vor Angst, dass er es bestimmt sehen muss, und mir ist dermaßen heiß. Okay, ich kann so nicht weiter tun. Ich muss schleunigst meine Jacke ausziehen und auf der Stelle meine Taktik ändern. Am Ende bekomme ich wirklich noch einen Forschungsauftrag und Fördergelder in Millionenhöhe, dabei will ich doch bloß seine Stimme aufzeichnen, denke ich, während er inzwischen dazu übergegangen ist, einen engagierten Vortrag über EU-Fördergelder zu halten. Also nicke ich lächelnd und tue so, als würde ich jedem seiner Worte mit voller Aufmerksamkeit folgen, während ich fieberhaft überlege, wie ich mich möglichst schnell und vor allem unauffällig aus der Affäre ziehen könnte, als es passiert.
Erst bemerke ich es gar nicht, dass er aufgehört hat zu sprechen. Aber als ich wieder aufblicke, sehe ich seine versteinerten Gesichtszüge. Diesen starren Blick, wie er wortlos mein Handgelenk fixiert. Einen Moment lang begreife ich überhaupt nicht, was eigentlich passiert. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, die ich nichts sagen, nichts tun kann, mich noch nicht mal von der Stelle rühren kann. Und dann, langsam, verstehe ich.
Ich kenne ihn.
Nicht aus den Nachrichten oder dem Zeitungsausschnitt, den ich bei Marie von Stetten gefunden habe. Ich kenne ihn von jenem Abend.
Es war dunkel und er trug wie alle anderen diese Maske im Gesicht, aber es besteht kein Zweifel daran, er war da. Und er war nicht irgendwer. Er war der Mann, der hinter dem Vorhang verschwand. Der Mann mit dem Schmiss im Gesicht. Der Boss.
World Health Organisation
Regionalbüro für Europa
Prüfungssenat ICD-10
Scherfigsvej 8
DK-2100 Kopenhagen
Dänemark
Elisabeth Weitzman
Habsburgergasse 9/11
A-1010 Wien
Austria
Kopenhagen, am 2.8.2009
Betreff: Aufnahme der »Numeralia-Phobie« / »Morbus Weitzman« in den ICD-10
Sehr geehrte Frau Dr. Weitzman!
Wir bedanken uns für Ihr Schreiben vom 30.7.2009 und Ihren Antrag auf Aufnahme der Numeralia-Phobie oder auch Morbus Weitzman als besondere Form der Angststörung im Zusammenhang mit Zahlen und Paragraphen in die »Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten« (ICD-10), im Kapitel F4 (Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen).
Zur Teilnahme am jährlich stattfindenden Vorschlagsverfahren bitten wir Sie, das beigelegte Original-Vorschlagsformular vollständig ausgefüllt bis spätestens 31.10.2009 an uns zurückzuschicken. Des Weiteren bitten wir Sie, die statistischen Ergebnisse Ihrer in diesem Zusammenhang erfolgten Studien zu übermitteln.
Mit freundlichen Grüßen
i.A.
Sekretariat des Prüfungssenats
KAPITEL 20
A
lso gut. Alles in Ordnung. Kein Grund gleich panisch zu werden. Tief durchatmen.
Zugegeben, ein Baugerüst direkt vor dem Fenster ist rein sicherheitstechnisch betrachtet nicht unbedingt das, was man sich als Hausbewohner unbedingt wünscht, und ja, eine um 15 Prozent höhere Einbruchsrate ist auch nicht so ganz zu vernachlässigen, aber ganz nüchtern gesehen gibt es Schlimmeres. Ja, beispielsweise einen an Türen lauschenden Hausmeister oder eine bei hell erleuchtetem Fenster nackttanzende Primaballerina. Nicht, dass ich hinsehen würde. Naja, vielleicht ganz kurz. Sie wissen schon, im ersten Schreckensmoment. Aber wehe, Erik untersteht sich. Ich habe ihm einen wirklich langen Vortrag gehalten. Ich bin das ganze Thema richtig wissenschaftlich angegangen, von wegen ethische Verpflichtung des Einzelnen, moralische Normen und Werte, Prinzip der Vernunft, Schulung der Urteilskraft … und mitten drin in meinem Vortrag zur richtigen sittlichen Einstellung springt er doch allen Ernstes auf, deutet begeistert in Richtung Nachbarwohnung und fragt mich, was ich denn von dieser Attitude halte, während Mademoiselle Primaballerina splitterfasernackt auf einem Bein stehend uns das andere neckisch nach oben entgegenstreckt. Ich kann eben noch rechtzeitig meine Hand vor Eriks Augen halten, ehe ich mit einem
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