Hide (German Edition)
ihm persönlich begegnen. Mit eigenen Augen ein Mitglied meiner vergessenen Familie sehen.
»Verdammt noch mal.« Sam sagte lange nichts. »Pass auf dich auf. Sei immer bereit, wie ich es dir beigebracht habe.«
»Mach ich.«
Nick lehnte sich über den Tisch und riss mir das Handy vom Ohr. Zu Sam sagte er: »Hattest du Flashbacks, in denen es um die Nacht vor fünf Jahren ging?«
Weitere Erklärungen dazu, auf welche Nacht Nick anspielte, schienen überflüssig zu sein – es ging um die Nacht, in der meine Eltern starben, die Nacht, in der Sam und die anderen vermutlich von der Sektion geschnappt worden waren.
Nick lauschte Sams Antwort und blickte sich dabei im Imbiss um. »Wenn dir dazu was einfällt, melde dich.« Pause. »Damit stimmt nämlich irgendwas nicht, aber ich weiß noch nicht, was.« Noch eine Pause. Ein Grummeln. »Werde ich.«
Er tippte mit dem Finger auf das Telefon und widmete sich dann wieder der kritischen Analyse eines jeden Gasts, der den Imbiss betrat.
»Wieso hast du Sam nach der Nacht gefragt?«, setzte ich behutsam an.
»Wenn ich das wüsste, hätte ich ihn wohl kaum gefragt, oder?«
Ich ließ mich in den Stuhl sacken und streckte die Beine aus. Himmel, war Nick manchmal kompliziert.
Ich erwartete nicht, dass er noch etwas hinzufügen würde, ganz besonders nicht nach dieser Gegenfrage. Aber vielleicht war ja ein Zusatz in dem Kaffee, der ihm die Zunge lockerte, denn er sagte: »Ich traue deiner Schwester nicht.«
Ich runzelte die Stirn. »Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Erst war sie fünf Jahre lang unsichtbar und dann finden wir sie im gleichen Labor wie diese ferngesteuerten Jungs. Und dann scheint es für sie völlig in Ordnung zu sein, dass du mit Sam zusammen bist. So, als hätte sie das schon gewusst. Findest du das nicht merkwürdig?«
»Wie hätte sie denn deiner Meinung nach reagieren sollen? Verbittert? Sie hatten schließlich über fünf Jahre keinen Kontakt. Sie hat sich damit arrangiert. Und außerdem ist sie meine Schwester.«
Er verzog das Gesicht. »Nur weil ihr blutsverwandt seid, ist es okay, ihr den Freund auszuspannen?«
Ich legte den Kopf schief. »Ich hab ihr Sam nicht ausgespannt.«
Die Tür ging auf und Nicks Aufmerksamkeit richtete sich kurz dorthin, bevor er sie wieder mir schenkte. »Nenn es, wie du willst. Ich finde jedenfalls, sie hat sich ein bisschen zu schnell damit abgefunden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist meine Schwester. Ich vertraue ihr.«
»Du kennst sie doch gar nicht.«
»Wir sind verwandt.«
Nicks Hände umschlossen den Kaffeebecher fester. »Was bedeutet das schon? Auch Verwandte können dich ziemlich scheiße behandeln.«
Ich sah ihn groß an. Wusste er, dass sein Vater ihn misshandelt hatte?
Ich streckte eine Hand aus. »Nick, ich …«
Er wich der Berührung aus. »Können wir jetzt los?«
Ich zog meine Hand zurück.
Er legte einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch und lief mit hochgezogenen Schultern zur Tür.
Vor ein paar Wochen hatte Nick mir erklärt, dass er es für besser hielt, sich nicht an seine Vergangenheit erinnern zu können. Sein genauer Wortlaut war gewesen: »Ich weiß vielleicht nicht mehr, wer ich früher war, aber ich wette, mir hat nicht immer die verdammte Sonne aus dem Arsch geschienen.«
Ich fragte mich immer noch manchmal, ob er recht hatte. Ob es wirklich alles schlimmer machen würde, seine Vergangenheit zu kennen. Irgendwann würde auch Nick über sie sprechen müssen, oder etwa nicht? Mir kam es so vor, als würde es ihm letzten Endes von uns allen am meisten schaden, nicht über seine Probleme und Erinnerungen zu sprechen. Vielleicht war das ja auch genau der Grund, weshalb er überhaupt erst bei der Sektion gelandet war, weil er sich nie mit den Dingen auseinandersetzen wollte, die sein Vater ihm angetan hatte. In meinem Fall war das anders. Da gab es eine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir sagte, ich würde mich nie komplett fühlen, wenn es mir nicht gelang, die fehlenden Puzzleteile zu ergänzen.
Ich wollte alles über meine Familie wissen, über meine Vergangenheit, ich wollte wissen, wer ich war und wieso ich hier gelandet war, was mich auf diesen Pfad gebracht hatte.
Und ich konnte nur hoffen, dass Onkel Will mir dabei helfen konnte.
20
Altmodische Laternen säumten die Straße und waren angegangen, während wir uns im Imbiss aufgehalten hatten. Sie tauchten die Umgebung in goldenes Licht. Die Temperatur war sogar noch weiter gefallen. Es wurde einfach immer
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