Hier kommt Hoeneß!
der EM 2008 Nationaltrainer zu werden. Und das in einer Situation, in der er noch selbst entscheiden konnte – in der nicht über ihn entschieden wurde. Damit hatte keiner gerechnet beim FC Bayern. Es war Hitzfelds bester Schachzug.
»Fußball ist keine Mathematik«, hatte Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge in zynischer und herablassender Art im November 2007 über den gelernten Mathematiklehrer Hitzfeld gesagt. Und der spürte, wie sich trotz einer Saison ohne Niederlage die Stimmung drehte. Bald würde er erfahren, dass man ohne ihn plane für die kommende Spielzeit. Daher kam er den Bossen zuvor und kündigte seinen Abschied vorzeitig an. Überraschend. Vertraglich noch bis Ende Juni gebunden, fühlte er sich dennoch frei. Und endlich erlöst. Hitzfeld bewundert Südafrikas ehemaligen Staatspräsidenten Nelson Mandela, den Freiheitskämpfer. Niemals hätte er es zugegeben, aber ein weiteres Jahr mit der geballten Kompetenzdreifaltigkeit Hoeneß, Rummenigge und Beckenbauer im Nacken wollte er sich zum damaligen Zeitpunkt nicht antun. Sicher verdiente er künftig weniger als Schweizer Nationaltrainer und konnte nicht mehr mit Weltstars wie Toni und Ribéry zusammenarbeiten, nicht die große Bühne Champions League betreten, wohl auch keinen Titel gewinnen. Und doch war es für ihn ein echter Karrieresprung – zu seinem eigenen Wohl. Eine Entscheidung für sich, für seine Gesundheit, für seine Familie. Ein Jahr zuvor war er mit seiner Frau Beatrix in sein neues Haus in Engelberg gezogen. Dort wollte er Golf spielen, bergwandern – den FC Bayern einen alten Verein sein lassen.
Nachdem er diese Entscheidung für sich getroffen hatte, wirkte er lockerer und gelöster im Gespräch. »In mir sieht es so gut aus wie nie zuvor«, sagte er, und man konnte es spüren. Er nahm sich, seinen Job und sein Umfeld beim FC Bayern nicht mehr so ernst wie früher während seiner ersten Ära von 1998 bis 2004. War er früher durch Augenringe gezeichnet gewesen, so zeichnete er sich jetzt durch Augenzwinkeraussagen aus. »Drei Titel zum Abschied«, meinte er ironisch, »das kann man meinem Nachfolger Jürgen Klinsmann doch wirklich nicht wünschen.« Es wurden zwei Titel: Meisterschaft und Pokal.
Am 17. Mai 2008, einem herrlichen Frühlingstag, wird Hitzfeld vor der Partie des letzten Spieltages gegen Hertha BSC in der Münchner Allianz Arena vom Vorstand verabschiedet. Als der Stadionsprecher seinen Namen aufruft und ihn von der Seitenlinie ein paar Schritte Richtung Spielfeld bittet, brandet ein gewaltiger Applaus von 69 000 Zuschauern auf. Hitzfelds Körper zuckt, sein ganzes Gesicht ist in Aufruhr. Er wird regelrecht von Heulkrämpfen geschüttelt. Vergeblich versucht er, seine Tränen der Rührung hinter dem rot-weißen Blumenstrauß des Vereins zu verstecken. Zu spät. Das Bild des derart ergriffenen Trainers, dem früher wegen seines strengen Umgangs mit der Mannschaft der Beiname »General« verliehen worden war und der stets versucht hatte, seine Emotionen zu verbergen, flimmert über die beiden riesigen Videoleinwände der Arena. Erst ist Hitzfeld und nun sind auch die Zuschauer ergriffen. Der Beifallssturm wird zum Orkan. Hoeneß drückt Hitzfeld wie einen nahen Verwandten, der sich für ein Jahr nach Australien verabschiedet, an sich, auch ihm kullern Tränen über die Wangen. Ein Freund verlässt den Verein, und das nicht durch den Hinterausgang wie so mancher in Ungnade gefallene Trainer, sondern »durch das große Tor der Arena«, wie es Hoeneß pathetisch formuliert. Hitzfeld geht zum zweiten Mal – diesmal ein Abschied voller Emotionen.
In der Analyse des Erlebten klang Hoeneß wenig später nüchtern-realistisch, ganz Geschäftsmann. »Uns war klar, dass Ottmar Hitzfeld, mit dem wir die Meisterschaft und den Pokal gewonnen hatten, einfach müde war. Es gab zwei Möglichkeiten, den Verein weiterzubringen: noch einmal in Spieler investieren oder probieren, mit unverbrauchten Kräften mehr aus ihnen herauszuholen. Wir hatten, ähnlich wie in Amerika, den Willen zu einem ›Change‹.« Mit anderen Worten: Ein Heilsbringer musste her. Und Bayerns Obama hieß Klinsmann.
Was Barack Obama bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2008 in den USA bewirkt hatte, sollte nun Jürgen Klinsmann leisten, der bis zu diesem Zeitpunkt sein Leben mit der Familie in Huntington Beach in Kalifornien genossen hatte. Als Bundestrainer hatte Klinsmann die Nationalelf in der Zeit von Sommer 2004 bis zur WM 2006 in Deutschland
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