High Fidelity (German Edition)
auf einer reinen Mädchenschule war, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß sie seit 1989 in einem ianfreien Universum gelebt hat.
Und diese Gewißheit, dieser Ian-Atheismus, hält vor, bis ich nach Hause komme. Auf der Fensterbank direkt hinter der gemeinsamen Haustür liegen drei Briefe zwischen der Pizza-Blitz- und der Minicab-Reklame: eine Rechnung für mich, ein Kontoauszug für Laura … und eine Fernsehgebührenmahnung für Mr. I. Raymond (seinen Freunden und, noch einschlägiger, seinen Nachbarn als Ray bekannt), der Typ, der bis vor ungefähr sechs Wochen über uns wohnte.
Ich zittere, als ich in die Wohnung komme und fühle mich krank. Ich bin sicher, er ist es. Ich wußte in dem Moment, als ich den Brief sah, daß er es ist. Mir fällt ein, daß Laura ein paarmal zu ihm hochgegangen ist, mir fällt ein, daß Laura … nicht direkt geflirtet hat, aber entschieden zu oft mit der Hand durch ihr Haar gefahren ist und alberner als nötig gegrinst hat, als er letzte Weihnachten auf einen Schluck zu uns runterkam. Er wäre genau ihr Typ – der verirrte kleine Junge, offen und ehrlich, fürsorglich, gerade melancholisch genug, um interessant zu wirken. Ich habe ihn schon damals nicht besonders leiden können, und jetzt hasse ich ihn bis aufs Blut.
Wie lange? Wie oft? Das letzte Mal, als ich mit Ray – Ian – sprach, der Abend vor seinem Auszug … lief damals schon was? Hat sie sich nachts die Treppe hochgeschlichen, wenn ich weg war? Wissen John und Melanie, die beiden aus dem Erdgeschoß, etwas darüber? Ich suche lange nach der Karte mit der neuen Adresse, die er uns hinterlassen hat, aber sie ist weg, was mir beunruhigend und bedeutsam vorkommt, es sei denn, ich habe sie weggeschmissen, in welchem Fall man die beunruhigende Bedeutsamkeit ersatzlos streichen kann. (Was würde ich machen, wenn ich sie fände? Ihn anrufen? Vorbeigehen und schauen, ob er Gesellschaft hat?)
Mir fallen nach und nach weitere Dinge ein: seine Latzhosen, seine Musik (afrikanische, lateinamerikanische, bulgarische, je nachdem, welcher beschissene World-Music-Mist gerade in war), sein hysterisches, nervöses, nervtötendes Lachen, die gräßlichen Kochdünste, die das Treppenhaus verpesteten, die Besucher, die zu lange blieben, zu viel tranken und zu polternd gingen. Mir fällt überhaupt nichts Gutes an ihm ein.
Es gelingt mir, die widerlichste, schmerzhafteste und beunruhigendste Erinnerung zu verdrängen, bis ich ins Bett gehe und höre, wie die Frau, die jetzt oben wohnt, herumstampft und Schranktüren knallt. Das ist das Allerschlimmste, die Sache, die jeden (jeden Mann?) in meiner Lage in kältesten, klebrigsten Schweiß ausbrechen ließe: Wir haben ihm immer beim Sex zugehört. Wir konnten die Geräusche hören, die er machte. Wir konnten die Geräusche hören, die sie machte (und es gab zwei oder drei verschiedene Sies während der Zeit, in der uns drei – oder vier, wenn man die Person in Rays Bett mitzählt – nur ein paar Quadratmeter knarrender Dielenbretter und abbröckelnder Putz voneinander trennten).
»Der ist ja ganz schön ausdauernd«, meinte ich eines Nachts, als wir beide wach lagen und an die Decke starrten. »Hätte ich auch mal so ein Glück«, meinte Laura. Das war ein Scherz. Wir lachten. Ha, ha, machten wir. Ha, ha, ha. Heute lache ich nicht. Noch niemals hat ein Scherz mich derart mit Übelkeit, Paranoia, Unsicherheit, Selbstmitleid, Furcht und Zweifel erfüllt. Wenn eine Frau einen Mann verläßt, und dieser Mann unglücklich ist (ja, nach der ganzen Benommenheit, dem dummen Optimismus und dem achselzuckenden »Was soll's« bin ich schließlich doch unglücklich, obschon ich trotzdem noch gerne irgendwo auf dem Coverfoto von Maries nächstem Album auftauchen würde) … geht es dann nur um diese Sache? Manchmal glaube ich das und manchmal nicht. Nach der Geschichte mit Charlie und Marco durchlebte ich so eine Phase, in der ich mir die beiden zusammen vorstellte, wie sie es trieben , Charlies Gesicht verzerrt von einer Leidenschaft, wie ich sie nie hatte auslösen können.
Ich würde sagen, obwohl mir im Moment nicht der Sinn danach steht, es zu sagen (ich will mich lieber selbst niedermachen, Mitleid mit mir haben, mich an meinen Unzulänglichkeiten weiden – das ist in solchen Zeiten das richtige), ich glaube, in der Abteilung hat alles gestimmt. Glaube ich. Aber in meinen Angstvorstellungen war Charlie so wild wie jemand aus einem Pornofilm. Sie war Marcos Betthäschen, reagierte auf jede
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