High Fidelity (German Edition)
zu haben. Zu Hause hatte ich keine Geschichte, nur Anekdoten, die jeder längst kannte, und die es deswegen nicht wert waren, wiederholt zu werden.
Aber ich kam mir immer noch wie ein Hochstapler vor. Ich war wie einer von den Leuten, die plötzlich ihre Haare stutzten und behaupteten, schon immer Punks gewesen zu sein, die schon Punks gewesen waren, ehe Punk überhaupt erfunden war: Ich hatte das Gefühl, man könne mir jeden Moment auf die Schliche kommen, irgend jemand könne plötzlich in die Hochschulmensa platzen, ein Anorak-Foto schwenken und laut ausposaunen: »Rob war mal ein kleiner Junge! Ein Hosenscheißer!«, und Charlie würde das Foto sehen und mich zum Teufel schicken. Ich kam nie auf den Gedanken, daß sie wahrscheinlich einen ganzen Berg Pferdebücher und lächerlicher Partykleider bei ihren Eltern in St. Albans versteckt hatte. Was mich anging, kam sie auf die Welt mit riesigen Ohrringen, Röhrenjeans und einer unglaublich ausgeprägten Begeisterung für die Werke eines Typen, der orange Farbe rumzuschmieren pflegte.
Wir gingen zwei Jahre miteinander, und jede einzelne Minute davon war mir, als stünde ich dicht am Abgrund. Mir war nie ganz wohl in meiner Haut, wenn du weißt, was ich meine: Es gab keinen Platz, um sich langzumachen und zu entspannen. Der Mangel an Extravaganz in meiner Garderobe deprimierte mich. Ich haderte mit meinen Fähigkeiten als Liebhaber. Ich konnte nicht begreifen, was sie an dem Orangekleckser fand, so oft sie es mir auch auseinandersetzte. Ich hatte Sorge, daß ich niemals in der Lage sein würde, irgend etwas Interessantes oder Amüsantes über was auch immer zu ihr zu sagen. Die anderen Männer in ihrem Designkurs schüchterten mich ein, und ich kam zu der Überzeugung, daß sie mit einem von ihnen auf und davon gehen würde. Sie ging mit einem von ihnen auf und davon.
Dann hatte ich einen kleinen Filmriß. Ich verpaßte die Nebenhandlung, das Drehbuch, den Soundtrack, die Pause, mein Popcorn, den Abspann und das Ausgangsschild. Ich drückte mich vor Charlies Studentenwohnheim rum, bis mich einige ihrer Freunde erwischten und mir drohten, mich kräftig aufzumischen. Ich beschloß, Marco (Marco!), den Typ, mit dem sie abgehauen war, umzubringen, und verbrachte lange Nächte damit, einen Plan zu schmieden, obwohl ich immer, wenn ich ihm über den Weg lief, nur mürrisch grüßte und mich verdrückte. Ich beging ein paar Ladendiebstähle, deren genauer Sinn und Zweck mir heute entfallen ist. Ich nahm eine Überdosis Valium und steckte mir binnen einer Minute den Finger in den Hals. Ich schrieb endlose Briefe an sie, von denen ich einige abschickte, und schrieb im Geist Drehbücher für endlose Gespräche, die wir niemals führten. Und als ich nach ein paar Monaten der Finsternis wieder zu mir kam, entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ich mein Studium geschmissen hatte und beim Record and Tape Exchange › Anmerkung in Camden arbeitete.
Alles war so schnell gegangen. Ich hatte irgendwie gehofft, daß mein Erwachsenendasein lang, ausgefüllt und lehrreich sein würde, aber es spielte sich komplett innerhalb dieser zwei Jahre ab. Manchmal kommt es mir vor, als sei alles, was mir seitdem passiert und jeder, der mir seitdem begegnet ist, nur eine unbedeutende Episode gewesen. Manche Leute kommen nie über die Sechziger weg, oder den Krieg, oder den Abend, an dem ihre Band als Vorgruppe zu Dr. Feelgood im Hope & Anchor › Anmerkung spielte, und leben für den Rest ihres Lebens in der Vergangenheit. Ich bin nie über Charlie weggekommen. Das war die Zeit, in der sich die wichtigen Dinge abspielten, die Dinge, die mich prägten.
Einige meiner Lieblingssongs sind: »Only Love Can Break Your Heart« von Neil Young, »Last Night I Dreamed That Somebody Loved Me« von den Smiths, »Call Me« von Aretha Franklin, »I Don't Want to Talk About It« von irgendwem. Und dann hätten wir noch »Love Hurts« und »When Love Breaks Down« und »How Can You Mend A Broken Heart« und »The Speed Of The Sound Of Loneliness« und »She's Gone« und »I Just Don't Know What To Do With Myself« und … einige dieser Songs habe ich im Schnitt etwa einmal pro Woche gehört (dreihundertmal im ersten Monat, hin und wieder danach), seit ich sechzehn oder neunzehn oder einundzwanzig war. Wie soll man das unbeschadet überstehen? Muß einen das nicht zum Menschen machen, der sich sofort in seine Bestandteile auflöst, wenn die erste Liebe scheitert? Was war zuerst da, die Musik oder das
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