High Fidelity (German Edition)
Unglücklichsein? Hörte ich mir Musik an, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich Musik hörte? Machen mich all diese Platten zu einem melancholischen Menschen?
Die Leute machen sich Sorgen, weil Kinder mit Kriegsspielzeug spielen und Teenager Gewaltvideos gucken, wir fürchten, sie könnten einer Kultur der Verrohung anheimfallen. Niemand sorgt sich um Kinder, die Tausenden – buchstäblich Tausenden – von Songs über gebrochene Herzen, Zurückweisung, Schmerz, Leid und Verlust lauschen. Von allen Menschen, die ich kenne, haben diejenigen am wenigsten Glück in der Liebe, denen Popmusik am meisten bedeutet. Ich weiß nicht, ob Popmusik der Auslöser dieses Unglücklichseins ist, aber ich weiß, daß sie schon länger traurige Songs hören, als sie ein unglückliches Leben führen.
Egal. Hier folgt, wie man eine Karriere nicht planen sollte: a) sich von der Freundin trennen, b) Studium hinschmeißen, c) Job im Plattenladen annehmen, d) für den Rest des Lebens in einem Plattenladen bleiben. Man sieht sich diese Bilder von Leuten aus Pompeji an und denkt, es ist doch verrückt: Ein einziges kurzes Würfelspiel nach dem Tee, und du bist zu Stein erstarrt, und so haben dich die Leute dann für die nächsten paar tausend Jahre vor Augen. Angenommen, es war das erste Mal, daß du je gewürfelt hast? Angenommen, du hast das nur getan, um deinem Freund Augustus Gesellschaft zu leisten? Angenommen, du hättest noch einen Moment zuvor ein hervorragendes Gedicht oder so etwas beendet? Wäre es nicht bedrückend, als Würfelspieler in Erinnerung zu bleiben?
Manchmal schaue ich mir meinen Laden an. (Denn ich bin in den letzten vierzehn Jahren nicht auf der Stelle getreten! Vor rund zehn Jahren habe ich mir das Geld geliehen, einen eigenen aufzumachen!) und meine Samstagsstammkunden, und ich weiß genau, wie diese Einwohner Pompejis sich fühlen müßten, könnten sie etwas fühlen (wenn auch gerade die Tatsache, daß sie es nicht können, sie zu dem macht, was sie sind). Ich bin in dieser Pose, der Pose des Ladenbesitzers, für immer eingefroren, nur weil ich 1979 für ein paar Wochen von der Rolle war. Ich schätze, es hätte auch schlimmer kommen können: Ich hätte ins nächste Rekrutierungsbüro der Armee marschieren können oder in den nächsten Schlachthof. Aber trotzdem habe ich ein Gefühl, als sei mir beim Bohren der Finger in der Nase steckengeblieben, und ich müßte mein ganzes restliches Leben so gräßlich entstellt herumlaufen.
Schließlich gab ich es auf, die bewußten Briefe abzuschicken, ein paar Monate später gab ich es auch auf, ihr zu schreiben. Ich malte mir immer noch aus, Marco umzubringen, aber die ihm zugedachten Tode wurden kurz und schmerzlos (ich gestatte ihm einen kurzen Moment des Erkennens, dann BLAM!) – ich fuhr nicht mehr so auf den perversen, langsamen Kram ab. Ich fing wieder an, mit Frauen zu schlafen, obwohl ich jede dieser Affären als bloßen Zufallstreffer betrachtete, als einmalige Angelegenheit, die nicht dazu beitrug, meine miese Selbsteinschätzung zu ändern. (Und ganz James Stewart in Vertigo hatte ich mir einen »Typ« ausgeguckt: kurzgeschorenes blondes Haar, kunstbeflissen, aufgedreht, gesprächig, was zu ein paar fatalen Fehlgriffen führte.) Ich hörte auf, so viel zu trinken, ich hörte auf, Songtexten weiterhin mit solch morbider Faszination zu lauschen (eine Zeitlang erschien mir nahezu jeder Song, in dem jemand jemanden verloren hatte, als auf gespenstische Weise bedeutungsschwanger, was zur Folge hatte, daß mir – da praktisch die ganze Popmusik davon handelte und ich in einem Plattenladen arbeitete – mehr oder weniger ständig gespenstisch zumute war). Ich hörte auf, tödliche Sentenzen zu dichten, die Charlie am Boden zerstört zurücklassen würden, gepeinigt von Reue und Selbstekel.
Ich achtete aber darauf, mich nie zu tief in etwas, eine Arbeit oder Beziehung, zu verstricken: Ich redete mir ein, es könne jeden Moment ein Anruf von Charlie kommen, bei dem ich sofort einsatzbereit sein müßte. Ich zögerte sogar, meinen eigenen Laden zu eröffnen, nur für den Fall, Charlie könne plötzlich den Wunsch haben, mit mir ins Ausland zu gehen, und ich könne dann nicht schnell genug umziehen. Heirat, Hypotheken und Vaterschaft kamen nicht in Frage. Aber ich war auch realistisch: Dann und wann brachte ich Charlies Leben auf den neuesten Stand und malte mir, nur um nicht aus der Übung zu kommen, einen ganzen Rutsch katastrophaler
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