High Heels und Gummistiefel
solcher Kommentar, dachte Isabelle bei sich, war wirklich unangebracht. »Sein Englisch ist gar nicht so schlecht. Moderne Linguistik ist nicht sein Fachgebiet.«
»Cunnilinguist oder Nicht-Cunnilinguist, das ist hier die Frage«, murmelte Jules vor sich hin.
»Er ist ein ungeheuer brillanter Wirtschaftswissenschaftler.«
Jules nickte. Dann, nach einer kurzen Pause, fragte sie: »Kommt er dich mal besuchen?«
»Ja, in ein paar Wochen. Er hat in Paris sehr viel zu tun.«
Isabelle vermisste Clothaire wirklich, vor allem seine klare Meinung
von Menschen oder Dingen. »Nul«, pflegte er zu verkünden oder, seltener, »Pas mal.« Dann wusste man, woran man war.
Jules, die vielleicht schloss, dass Isabelle nicht weiter über dieses Thema reden wollte, ging zum nächsten über: »Weißt du, ich verstehe immer noch nicht so ganz, um was es in deinem Buch geht.«
»In meiner Doktorarbeit.«
»Von mir aus. Ging’s da um eine Frau, die irgendwas vergessen hat?«
»Äh, nein. Der Titel lautet ›Die vergessene Vertreterin der Moderne: Entstellungs- und Täuschungsstrategien.‹«
»Au weia.«
»Es geht um Meredith Quince, eine Schriftstellerin aus den Dreißigerjahren.«
»Okay. Also, was gefällt dir so an ihr?«
»Sie ist vollkommen unbekannt.«
»Und das ist was Gutes?«
»Ja, weil... Ein paar von meinen Freunden schreiben zum Beispiel über sehr bekannte Autoren, wie Jane Austen, und dann muss man alles lesen, was vorher über sie geschrieben worden ist.«
»Aber bei dieser Frau kannst du alles erfinden?«
»Nun ja, ein paar Sachen kann ich auftreiben«, entgegnete Isabelle etwas schroff. »Das ist Recherche.«
»Und was hat sie geschrieben?«
»Ein wundervolles, experimentelles Werk namens T he S plodge .«
»Cool. Um was geht’s da?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe es nicht gelesen.«
»Was?«
Isabelle holte tief Luft. Dieses Gespräch hatte sie schon etliche Male geführt, nicht zuletzt mit ihrem Doktorvater, Professeur Sureau, dem bekannten Spezialisten für Angelsächsische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts.
»Also, tatsächlich wurde es nie veröffentlicht. Und niemand weiß, wo das Manuskript ist.«
Jules nickte vor sich hin. »Also... du schreibst ein Buch über ein Buch, das du nie gelesen hast.«
»Nein, ich meine... Sie hat auch noch andere Bücher geschrieben. Die habe ich gelesen.«
»Und was sind das für welche?«
»Nun ja, eigentlich sind das, äh... Detektivgeschichten. Du weißt schon, wie Agatha Christie.«
Das war der Punkt gewesen, wo Professeur Sureau anscheinend drauf und dran gewesen war, mit Schaum vor dem Mund rücklings umzukippen. Seine Fakultät war konservativ, und oberflächlich betrachtet mangelte es Quinces Romanen an akademischer Glaubwürdigkeit. Der Tod der Bauchrednerin, Mord in Glacehandschuhen und Pink Gin unter dem Rasen waren im Grunde Krimis, in denen jedes Mal dieselbe Amateurdetektivin die Hauptrolle spielte, eine junge Aristokratin namens Lady Violet Culpeper. Jules reagierte ganz anders. Sie wirkte ungewöhnlich lebhaft.
»Echt? Sind die gruselig?«
Isabelle wusste nicht, was sie sagen sollte. Bestimmt sah Jules doch ein, dass es darum gar nicht ging. Worum es ging, war natürlich The Splodge , Quinces verlorenes Werk, das sie laut einer Fußnote in den Memoiren ihres Literaturagenten 1932 verfasst hatte. Sie versuchte es weiter: »In Wirklichkeit interessiere ich mich für das andere Buch, das, das verschwunden ist. Ich versuche dahinterzukommen, wie es war, indem ich die anderen lese.«
Isabelles Theorie lautete folgendermaßen: Das Scheitern von The Splodge hatte Quince während ihrer ganzen restlichen literarischen Schriftstellerkarriere nicht mehr losgelassen. Es war ihr gelungen, einige Elemente ihres verschmähten Experiments in ihre späteren, erfolgreichen Romane zu übertragen und sie dort zu verbergen. Die
Lady-Violet-Bücher hatten jede Menge grelle Sensationslust zu bieten. Das war misslich, und Isabelle war sich darüber vollständig im Klaren. In Tod unter dem Mistelzweig zum Beispiel musste Lady Violet sich als Kaminkehrer-Lehrling ausgeben, wurde dann um Haaresbreite von einem als Falle präparierten Weihnachtsbaum zermalmt und enttarnte den Mörder schließlich bei Cocktails im Savoy. (Jules, die zusammengesunken auf ihrem Sitz hockte, lebte an dieser Stelle sichtlich auf.) Doch in den Büchern ging es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes: sich wandelnde Strukturen, mehrdeutige Erzählstimmen, eine kubistische Ästhetik,
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