High Heels und Gummistiefel
Fashion Week vorübergehend Quartier bezog. Das war ihr anscheinend zu seelenlos und korporativ. Worauf sie stattdessen aus war, war eine Schau in einem Umfeld, das »sich wie zu Hause anfühlte«. Savage musste ziemlich
spéciale sein, dachte Isabelle bei sich, während sie das enorme, trübe beleuchtete Lagerhaus betrachtete, in dem geheimnisvolle Überreste ausgemusterter Maschinen herumstanden und es ganz leicht nach Staub und Chemikalien roch.
Sie wandte sich an Jules. »Ein bisschen düster hier.« »Man soll Savage auf keinen Fall nachsagen, dass sie’s nicht gern ausgefallen hätte.«
»Es erscheint mir ein bisschen bizarr, Leute für so etwas hierher einzuladen. Ist Whitechapel nicht die Gegend, wo... du weißt schon... das mit Jack the Ripper war?«
»Oh ja, absolut. Man kann seine Gegenwart praktisch direkt neben sich spüren, nicht wahr? Da kriegt man doch echt Gänsehaut.« Anerkennend blickte Jules sich um. »Das hier ist allerdings mehr eine Schweigen-der-Lämmer- Kulisse.«
Isabelle hatte den Film nicht gesehen, auf den Jules anspielte, doch sie begriff ungefähr, was diese meinte.
»Übrigens, hast du die Pressemitteilung gelesen?«, erkundigte sich Jules und lenkte Isabelles Aufmerksamkeit auf die Fotokopien, die sie auf ihren Stühlen gefunden hatten. Isabelle hatte ihre gleich nervös zusammengefaltet und sie in die Manteltasche geschoben, näheres Hinsehen jedoch zeigte, dass es sich um eine Art Informationsblatt darüber handelte, was sie gleich sehen würden. Der Text war im Stil eines Erpresserbriefes gedruckt; jedes Wort sah aus, als sei es aus einer Zeitung ausgeschnitten worden:
SAVAGE:
FRÜHLING-SOMMER-WOMENSWEAR
ALL TOGETHER NOW!
Isabelle las weiter:
In ihrer bislang revolutionärsten Kollektion verabschiedet sich Savage vom Individuum. Alle Teile wurden kollektiv von Savage und ihrem Team produziert und können außerdem kollektiv getragen werden.
Savages Kleidungsstücke sind politisch und anti-elitär. Jeder kann sie tragen – gleichzeitig mit anderen.
All together now!
Knickerbockers sind als Module entworfen und passen an so viele Beine wie nötig. Asymmetrische Röcke aus spiralförmigen, mit Druckknöpfen versehenen Bahnen können erweitert werden, um all Ihre Freunde mit einzubeziehen, ganze Familien und Wohnviertel – und ultimativ, in Savages Vision, die gesamte Menschheit.
Grenzen zwischen dem Selbst und dem anderen lösen sich auf, zwischen hässlich und hübsch, einem und vielen, weich und grob, sicher und riskant, ja und nein, groß und klein, gut und schlecht, warum und darum, Begrüßung und Abschied.
Vielleicht war es durchaus verständlich, dass Isabelle nur einen Bruchteil dessen erfasste, was sie las. Ganz benommen von ihrem ersten Kontakt mit Mode-Fachchinesisch, wandte sie sich hilflos an Jules.
»Die andere Seite gefällt dir vielleicht besser«, bemerkte diese trocken.
Isabelle drehte das Blatt um. Es war eine Liste aller Beteiligten, auf der sie überrascht und entzückt ihren eigenen Namen entdeckte: »Kopfbedeckungen von Christopher Seamyngley, mit unschätzbarer Unterstützung durch Isabelle Papillon.« Das war lieb von Chrissie. Doch sie war auch dankbar, dass Professeur Sureau niemals von ihrem unorthodoxen Spezialgebiet erfahren würde. Es war ein wenig Eile geboten gewesen, um alles rechtzeitig fertig
zu bekommen, und Isabelle konnte sich Sureaus Gesicht nur zu gut vorstellen, hätte er seine ernsthafte Protegée gestern Abend fieberhaft Pailletten annähen sehen (erwartungsgemäß hatte Savage noch ein paar Änderungen in letzter Minute verlangt), was sich mit ebenso fieberhaften Tanz-Anfällen zur Musik von Girls Aloud abgewechselt hatte – ein unverzichtbarer Teil von Chrissies kreativem Prozedere.
Es folgte eine scheinbar sehr lange Wartezeit – vorrangig durch das verspätete Eintreffen zweier Ungemein Wichtiger Zeitungsleute – einer davon männlichen Geschlechts und im bodenlangen Mantel, der aus einem Patchwork aus richtigen Teddybären bestand; die andere Person war weiblich und mit einem Hummer auf dem Kopf. Isabelle starrte ungläubig, als sie sich nach zahlreichen Luftküssen und viel Gewinke und Gerufe niederließen. Das Licht wurde gedimmt. Erwartungsvolles Schweigen senkte sich herab.
Dann begann eine höchst verwirrende Phantasmagorie. Angekündigt von Wolfsgeheul, das hin und wieder von kreischenden Geigenklängen und gelegentlichem nervenzerfetzenden Zimbelscheppern unterbrochen wurde, schlurften acht von Savages
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