High Heels und Gummistiefel
sicher.
14
Daisy
Daisy stempelte ihre grüne Fahrkarte im Automaten ab und ging den Mittelgang des Busses der Linie 27 hinunter. Es war später Vormittag, und es waren eine ganze Menge Leute im Bus – ein Cocktail aus lässig hingelümmelten Studenten, alten Damen in Pelzmänteln und betörten amerikanischen Touristen -, doch Daisy erspähte einen freien Sitzplatz, einen dieser Einzelsitze, die paarweise einander gegenüber angeordnet waren. Der Platz gegenüber war auch leer. Das passte ihr sehr gut. Sie wollte lieber allein sitzen. Der Bus fuhr an, und wie aufs Stichwort begannen ihr die Tränen über die Wangen zu rollen. Daisy hatte in letzter Zeit festgestellt, dass fast jede Bewegung – den Arm heben, sich hinsetzen, laufen, einatmen, ausatmen – nerviges Geflenne auslöste. Öffentliche Verkehrsmittel waren eindeutig am schlimmsten, mit all dem Anhalten und Wieder-Losfahren. Sie war zu jenem fürchterlichen Standard-Typus des Großstadtlebens geworden – die tragische Weinende. Es spielte keine Rolle, dass die Leute sie seltsam ansahen. Das kümmerte sie nicht, denn sie konnte nichts dagegen machen. Vielleicht würde das nervige Geflenne eines Tages aufhören, dachte sie, während sie aus dem Fenster auf die deprimierende Parade der grellen Fast-Food-Restaurants und Billigklamottenläden am Boulevard Saint-Michel schaute.
In letzter Zeit dachte sie ständig, einschließlich nachts, über die verschiedenen Möglichkeiten nach, mit voller Absicht rein zufällig Octave über den Weg zu laufen und dann Agathe, Jules oder Marie-Laure anzurufen, damit diese ihr ihre Pläne wieder ausreden
konnten. Trotzdem hatte sie so etwas, worüber sie nachdenken konnte.
Während der ganzen Fahrt den Boulevard hinunter kamen und gingen Fahrgäste, von Daisy unbemerkt. Sie war damit beschäftigt, sich ein Outfit vorzustellen, in dem sie gleichzeitig umwerfend und doch so aussehen würde, als hätte sie das Erstbeste übergestreift, das ihr in die Finger gekommen war – ein Jeans-Minirock mit schwarzen Leggins und Stiefeletten vielleicht, und ihr Mohairpulli in Knallpink, der mit dem Schalkragen. Und ihre cremefarbene Chloé-Handtasche aus Leder, nonchalant über die Schulter gehängt. Das Haar würde sie zu einem aufreizenden Drehknoten hochgesteckt haben, und sie würde die Straße entlangschreiten, unterwegs zu... irgendwohin eben, zu einem sehr wichtigen Termin. Sie wäre völlig in Gedanken versunken. Und dann würde aus heiterem Himmel ein schwarzer Motorroller neben ihr anhalten, und sie würde hören, wie eine Stimme sagte...
»C’est pas mal quand même, non? Vouz ne trouvez pas?«
Unsanft aus ihrem Tagtraum gerissen, blickte Daisy auf. Jetzt saß ein Mann auf dem Platz ihr gegenüber. Seinem erwartungsvollen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er derjenige, der gerade gesprochen hatte, und die Bemerkung war an sie gerichtet gewesen. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Bus hielt an einer Ampel am unteren Ende des Boulevards, und die Seine war in Sicht.
Müde erwiderte Daisy: »Heu, oui, c’est très joli.«
Zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie ihr augenblicklich die Tränen kamen. Wie vorhersehbar und langweilig. Nun, wenigstens würde das ihn dazu veranlassen, den Mund zu halten, und sie konnte sich ihren jämmerlichen, aber tröstlichen Träumereien hingeben. Stattdessen sagte der Mann freundlich: »Sind Sie Amerikanerin? Engländerin?«
Oh, jetzt kommt diese Nummer, dachte Daisy, wie ungeheuer
originell. Sie holte Luft und versuchte, ihre Tränen zurückzudrängen. Konnte er denn nicht sehen, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte?
»Ich bin Engländerin«, erwiderte sie frostig, ohne ihn anzusehen.
»Aus London?«
»Jaaa«, antwortete Daisy und seufzte hörbar in einem Versuch, das Gespräch zu beenden.
Und wie sich herausstellte, fragte ihr Weggefährte sie auch nicht weiter aus. Als der Bus wieder anfuhr und sich anschickte, den Pont Saint-Michel zu überqueren, hörte sie ihn stattdessen leise und staunend auf Englisch sagen: »Das ist eine verdammt tolle Busroute. Yeah!«
Den Bruchteil einer Sekunde fand Daisy die Verbindung zwischen seinem französischen Akzent und seiner transatlantischen Ausdrucksweise erheiternd, dann fiel ihr ihre traurige, missliche Lage wieder ein.
»Ja, wissen Sie, ich habe mein ganzes Leben lang hier gewohnt«, fuhr der Pariser Fremdling mit dem amerikanischen Zungenschlag fort, »aber es überrascht mich immer wieder, wie schön Paris ist.«
Während sie
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