High Heels und Gummistiefel
kam. Sie sah sich um, doch ihr Weggefährte war schneller. Er stand auf, drückte auf den grünen Knopf und blieb stehen, eine Hand an der Stange und die Mappe unter dem Arm. Er stieg also auch hier aus. Während sie ihren Mantel zuknöpfte und sich von ihrem Platz erhob, bemerkte Daisy, dass er dunkle Jeans und – angesichts seines amerikanischen Akzents vielleicht nicht eben eine Überraschung – Cowboystiefel trug. Yi-hah, dachte sie und lächelte innerlich. Dann, als sich die Türen zischend öffneten, verspürte sie heftige Gewissensbisse. Sie war sehr unhöflich zu ihm gewesen.
Als der Bus weiterfuhr und sie allein an der Haltestelle zurückließ, lächelte der Mann Daisy an. »Also, dann passen Sie mal gut auf sich auf.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Daisy. »Hören Sie, es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich war... ein bisschen durcheinander, wegen etwas anderem.«
»Ja, das habe ich gesehen. Deswegen habe ich auch immer weitergequasselt«, sagte er und machte mit Daumen und Fingern eine »Plappermaul«-Geste. »Ich hoffe, ich war nicht zu langweilig?«
»Oh nein!« Daisy war aufrichtig gerührt. »Es war sehr interessant. Danke, dass Sie mich ein bisschen unterhalten haben. Ich bin froh, dass Sie genauso weit fahren mussten wie ich.«
Einen Moment lang sah er sie an und kaute auf seiner Oberlippe herum. Dann grinste er und zeigte blendend weiße Zähne. »Na ja, wissen Sie, in Wirklichkeit musste ich gar nicht so weit. Eigentlich hätte ich bei Les Halles aussteigen müssen, wegen einer Besprechung. Nein, nein, alles cool, machen Sie sich keine Sorgen«, wehrte er ab, als er ihr Gesicht sah. »Die Welt hört deshalb nicht auf, sich zu drehen.«
Daisy schaute auf ihre Armbanduhr. Sie durfte auf keinen Fall
schon wieder zu spät zu einem Treffen mit Anouk kommen! »Ich muss los«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Vielen Dank. Vous avez été très gentil. «
»De rien. Keine Ursache. Hey, warten Sie«, sagte er, als Daisy sich zum Gehen anschickte. Er klemmte seine Mappe unter den Arm, zog einen schwarzen Filzstift aus der Brusttasche, griff abermals nach Daisys Hand und schrieb eine Telefonnummer darauf. »Ich heiße Raoul. Sie können mich ja anrufen, wenn Sie den Rest meiner Lebensgeschichte hören wollen.«
Daisy platzte laut heraus, etwas, das sie seit Wochen nicht mehr getan hatte. »Okay, vielleicht tue ich das. Wiedersehen.«
»Wiedersehen, kleine Engländerin, die mir ihren Namen nicht verraten hat.«
»Entschuldigung. Ich heiße Daisy.«
»Machen Sie’s gut, Daisy. Immer locker bleiben.«
Ganz offensichtlich hatte dieser Franzose viel zu viele Western und dergleichen gesehen, dachte Daisy, als sie die Avenue überquerte. Als sie die andere Straßenseite erreicht hatte, schaute sie sich um. Raoul stand noch immer an der Bushaltestelle. Er winkte. Daisy winkte zurück und marschierte energisch auf den Boulevard des Capucines und das Café de la Paix zu, wo Anouk auf sie wartete. Als Daisy den Tisch ihrer Freundin in dem plüschigen roten Samtinnenleben des Cafés ausgemacht hatte, warf Anouk einen einzigen Blick auf sie und erkundigte sich sofort, ob sie gerade von der Kosmetikerin käme. Daisy schüttelte den Kopf und gab ihre Geschichte zum Besten.
»Eh oui«, sagte Anouk und nickte weise, als Daisy geendet hatte. »So geht es manchmal, genau wie im Kino. Deswegen siehst du also so aus, mit ganz rosigen Wangen? Und ich dachte, das käme bloß von einem guten Peeling! Du wirst diesen Raoul also anrufen, ja?«
»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Daisy und betrachtete die Nummer auf ihrer Hand.
»Daisy«, sagte Anouk ernst, »hör mir mal zu, mon petit. Als ich in deinem Alter war, da war das Leben vollkommen offen, wie ein Buch mit leeren Seiten. Ich konnte zum Beispiel in den Jardin des Tuileries gehen und mich auf eine Bank setzen, und... alles Mögliche konnte passieren. Und, weißt du, es ist auch passiert«, fügte sie ganz in ihren Erinnerungen verloren hinzu. »Ich will nicht behaupten, dass einem später im Leben nichts Schönes passieren kann, solange man sich ein bisschen Reiz bewahrt, du verstehst. Aber die Wahrheit ist, es passiert nicht mehr so leicht wie in der Jugend. Und außerdem, ganz ehrlich, mit einem gut aussehenden Mann etwas trinken gehen... er sieht doch gut aus, ja?«
»Ja-a... Ich denke schon. Ein bisschen verwildert.«
»Verwildert?«
»Er sieht nicht aus, als ob er oft Peelings macht«, meinte Daisy, ehe sie die
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