High Heels und Gummistiefel
durch ihre Tränen hindurch aus dem Fenster starrte, nahm Daisy die Bewegungen der Passanten wahr, die ebenfalls die Brücke überquerten. Alle wirkten gestresst und verkniffen. Alle trugen langweilige Klamotten. Und die Seine und die quais sahen heute besonders wintergrau und öde aus. Daisy schloss die Augen. Als sie sich abmühte, ihren Tagtraum an der Stelle wieder einzufangen, wo Octave auf seinem Roller auftauchte, hörte sie: »Besonders toll finde ich, wie um diese Jahreszeit alles eine einzige Farbe annimmt: der Himmel, der Fluss, die Gebäude. Es ist alles so wunderbar grau – beige – golden -, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.«
Mit Mühe öffnete Daisy die Augen wieder und starrte den von
Bäumen gesäumten Fluss an. Sie musste zugeben, an der Sache mit den Farben war etwas dran. Tatsächlich waren sie subtiler und zarter, als ihr klar gewesen war – elegante Neutraltöne.
»Ja, ich weiß, das klingt langweilig, aber für mich nicht, überhaupt nicht. Das gibt einen tollen Hintergrund für das Leben der Stadt ab.«
Als der Bus die Brücke verließ, erhaschte Daisy einen Blick auf die geschäftigen Stände der bouquinistes und auf die prachtvolle Wucht von Notre-Dame, kurz bevor beides aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Ich bin im Moment in einem ganz komischen Zustand«, fuhr ihr Gegenüber vertraulich fort, gerade als Daisy anfing, sich zu fragen, ob er tatsächlich völlig durchgeknallt war. »Weil, ich komme gerade von einer Besprechung über mein nächstes Projekt.«
Daisy schaute in seine ungefähre Richtung und stellte fest, dass er sehr braun war, mit eher längerem, graumeliertem Haar, grünen Wolfsaugen und einer Menge Bartstoppeln, die recht sexy waren. Wahrscheinlich Anfang oder Mitte vierzig. Er trug eine schwarze Lederjacke über einem schwarzen Polohemd und hatte eine grünschwarz marmorierte Mappe unter dem Arm. Was war das für ein Typ? Ein Fotograf? Ein Maler? Da sie nicht gerade darauf aus war, ein Gespräch anzuknüpfen, wandte Daisy sich ab und schaute wieder aus dem Fenster, während sie an dem wunderschönen Blumenmarkt auf der Île de la Cite vorbeifuhren. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht morgen wiederkommen und eine oder zwei Lavendelpflanzen für Isabelles Balkon kaufen könnte.
»Die machen mich total rasend, wissen Sie? Vergessen, mir Probeandrucke zu zeigen, oder sie wollen die Farben ändern. Ständig irgendwas in der Art! Also haben wir auf den Tisch gehauen und uns angebrüllt wie die Irren, und jetzt ist meine Stimme vollkommen im Eimer.«
Nun ja, dachte Daisy, wenn dem wirklich so war, dann hielt er sich gar nicht schlecht. Anscheinend gab es keine Möglichkeit, ihn zum Schweigen zu bringen.
»Jedes Mal, wenn ich mit diesem Kerl zusammenarbeite -Antoine heißt er -, dann muss es so ein Riesen-Machostreit sein. Manchmal glaube ich, es wäre besser, wenn wir uns wirklich schlagen würden, wissen Sie, mit den Fäusten. Ehrlicher, Sie verstehen. Jetzt bin ich völlig erledigt. Aber es hat sich gelohnt. Weil es nämlich ein ganz tolles Heft wird, glaube ich. Vielleicht das beste, das ich je gemacht habe. Le top du top.«
Also eine Art Schriftsteller. An Selbstbewusstsein fehlt es ihm jedenfalls nicht, dachte Daisy und lächelte ganz leicht. Der Bus war abermals abgebogen, und die sonnenbeschienene Rue de Rivoli entfaltete sich vor ihren Augen. Die kleinen Tische im Freien vor den Cafés waren wie gewöhnlich dicht mit fröhlichen Faulenzern bevölkert, die sich an einem Kaffee festhielten und zusahen, wie die Welt an ihnen vorbeizog.
»Und wenn es dann rauskommt, gehe ich wie immer mit Antoine – meinem Verleger – essen, um zu feiern. Wie immer betrinken wir uns bis zum Abwinken mit Armagnac und rauchen Zigarren und sind wieder die allerbesten Freunde. Für so was gehe ich gern ins Hotel Costes. Das ist eines der schönsten Lokale von ganz Paris. Ich kenne die Jungs, die den Laden schmeißen, deswegen kriege ich immer einen Supertisch. Ich nehme immer das confit de canard. Wenn man so wie ich aus dem Südwesten von Frankreich ist, liebt man solche Gerichte.«
Während sie ihm zugehört hatte, waren Daisys Tränen getrocknet, ohne dass sie es gemerkt hatte. Der Bus war am Louvre vorbeigefahren, hatte den Place du Palais-Royal überquert und tanzte jetzt die Avenue l’Opera hinauf, auf das große Opernhaus zu, dessen grünes Dach mit den glitzernden goldenen Statuen Daisy in
der Ferne sehen konnte. Das hieß, dass ihre Haltestelle als Nächste
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