Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
begegnet. Damals hatte er sich damit abgeplagt, einen Hasen zu fangen, der zu schlau war, in seine Fallen zu gehen. Der Kanadier und die beiden Indianer – Kleiner Wolf und der, den sie Le Chrétien, den Christen, nannten – hatten ihn ohne sein Wissen von ihrem Felsvorsprung aus beobachtet und über ihn gelacht. Da er die Kleidung trug, die er bei dem Kampf um die Kirche von Point Levy einem gefallenen Milizionär abgenommen hatte, ahnten die drei Männer zu Beginn nicht, dass John aus der britischen Armee desertiert war. Als er allerdings den Mund öffnete, um ihre Fragen zu beantworten, erkannten sie an seinem starken Akzent gleich, wer er war. Der eine der Eingeborenen hatte ihn sofort gepackt und ihm das Messer an den Haaransatz gesetzt. Doch die anderen berieten sich, und Michaud befahl Kleiner Wolf, ihn nicht so rasch zu skalpieren. Jemand, der aus der Besatzungsarmee desertiert war, mochte für sie durchaus von Nutzen sein.
So hatten sie John das Leben gelassen, aber sie hatten ihn auf die Probe gestellt. Um sich selbst zu retten, hatte er bei einem Zusammenstoß, den Michaud inszeniert hatte, zwei seiner Landsleute töten müssen. Der Schotte hatte inbrünstig darum gebetet, seine Brüder möchten nicht zu der Abteilung gehören, die sie angriffen; der Rest war ihm ziemlich gleichgültig gewesen.
Seitdem war er mit Michaud, der seinen Fleiß, seine Schießkunst und seine körperliche Ausdauer schätzte, als Trapper unterwegs gewesen. Mit der Zeit hatten die anderen Vertrauen zu ihm gefasst, und er hatte sich einen Platz in der Gruppe erarbeitet. Bald zögerte der reisende Pelzhändler auch nicht mehr, ihm immer wichtigere Aufgaben zu übertragen. Beim letzten Mal hatte er ihn gebeten, seine schöne Gattin Marie-Anne nach Trois-Rivières zu ihrer sterbenden Mutter zu begleiten, da er selbst durch ein Fieber ans Bett gefesselt war.
Unterwegs hatte ein heftiges Gewitter sie überrascht. Nass bis auf die Knochen hatten die beiden jungen Leute Unterschlupf in einer Scheune suchen müssen, bis der Sturm nachließ. Später konnte John sich nicht mehr erklären, wie es dazu gekommen war, aber kurz darauf hatten sie sich nackt und eng umschlungen im Heu wiedergefunden und sich geliebt…
Jetzt saß Marie-Anne auf einem Stuhl, schlürfte aus einer schönen französischen Fayence-Tasse ihren Kaffee und sah ihn aus großen Rehaugen an. Sie war schön, die junge Witwe, und das wusste sie nur allzu gut. Kokett lächelte sie ihm zu und sog den angenehmen Duft ein. Als er an ihre Tür geklopft und um Asyl für seinen Bruder, seine Begleiter und sich selbst gebeten hatte, da hatte sie ihn mit offenen Armen empfangen… und in ihr Bett eingeladen. Doch lange würde er es hier nicht aushalten; die Wälder riefen nach ihm. Wenn sie wollte, würde er vielleicht wiederkommen, aber mehr würde daraus nicht werden.
Seine Gedanken wandten sich erneut Alexander zu. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Der kleine Finger seiner linken Hand schien endgültig verloren zu sein. Er fürchtete, dass sie ihn würden amputieren müssen. Alexander hatte hohes Fieber und halluzinierte, daher lag die Entscheidung bei ihm.
Drei Tage später blieb ihm keine andere Wahl mehr: Alexanders Fingerspitze begann sich schwarz zu verfärben, ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Wundbrand eingesetzt hatte. Er hatte einen Kameraden gebeten, die Amputation vorzunehmen, wozu ihm als einziges Werkzeug eine scharfe Axt zu Gebote stand. Cabanac galt als Meister dieser Operation; er vertraute ihm. Anschließend würden sie die Wunde mit einem glühenden Eisen ausbrennen, und mit etwas Glück würde sie sich dadurch nicht entzünden.
John flüchtete in den kleinen Salon und trank einen Schluck Marc. Der starke Tresterschnaps ließ eine angenehme Wärme in seinem verknoteten Magen aufsteigen und half ihm, sich zu entspannen. Marie-Anne, die hinter ihm stand, schlang die Arme um seine Taille und verschränkte sie vor seinem verkrampften Leib.
»Alles wird gutgehen, Jean«, murmelte sie an seiner Schulter. »Es ist schließlich nur ein Finger, und dazu noch der, den man am wenigsten braucht! Du wirst schon sehen, er wird wieder gesund.«
John zog eine Grimasse, in der sich Abscheu und Bitterkeit mischten. Nur ein Finger! Er fragte sich, ob die junge Frau das Gleiche gesagt hätte, wenn es um ihren eigenen Finger gegangen wäre. Da hallte ein Schrei durch das ganze Haus, bei dem einem das Blut hätte gefrieren können. John biss die Zähne
Weitere Kostenlose Bücher