Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
das?«
Er ging näher heran und erblickte eine Art Kasten, der unter der Arbeitsplatte des Schreibtisches befestigt war. Isabelle wandte den Kopf.
»Eine Schublade vielleicht?«
»Das könnte man fast meinen. Merkwürdig! Davon war nie die Rede.«
»Ach ja?«
»Nein. Er muss das Fach erst kürzlich angebracht haben. Es ist nicht das gleiche Holz, aus dem das Möbel hergestellt ist, und das Schloss glänzt wie ein frischgeprägter Sou.«
»Könnt Ihr es öffnen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das darf …«
»Pierre ist tot, Monsieur Guillot. Ich finde, wir sollten wissen, was sich in diesem Fach befindet.«
Das Gesicht der Frau befand sich nur ein paar Zoll von seinem entfernt, und ihr Parfüm umschwebte ihn köstlich. Ihre etwas unschickliche Stellung besorgte ihn ein wenig. Was würde das Hausmädchen sagen, wenn sie hereinkam und sie beide unter dem Schreibtisch entdeckte?
»Wie Ihr wünscht…«
Er versuchte die Schublade zu öffnen, doch ohne Erfolg.
»Sie ist abgeschlossen …«
»Ich frage mich, was dieses Fach enthalten könnte«, dachte Isabelle laut.
»Wichtige juristische Dokumente vielleicht?«
»Möglich … Oder ein Schmuckstück, ein Geschenk, das für mich bestimmt war? Briefe?«, fuhr sie leiser fort, denn ihr fielen die zahlreichen Mätressen ein, die ihr Mann gehabt hatte.
Jacques Guillot erriet, was sie dachte.
»Seid Ihr Euch wirklich sicher, dass Ihr wissen wollt, was in dieser Schublade ist?«
»Ja doch!«
»Der Schlüssel muss ja irgendwo sein… Wo hat Euer Mann für gewöhnlich seinen Schlüsselbund aufbewahrt?«
»Nun ja … Entweder er hatte ihn bei sich, oder er hat ihn in sein Zimmer gelegt. Er war jedenfalls nicht in der Kleidung, die er am Tag seines Todes getragen hat …«
Jacques Guillot steckte den Schlüssel ins Schloss und konnte ihn leicht umdrehen. Ein Klicken ließ sich vernehmen, dann war das Fach zu bewegen und löste sich mit einem metallischen Geräusch von dem Möbel. Der Notar stellte es auf den Boden und rückte dann beiseite, um Isabelle Platz zu machen.
»Diese Ehre gebührt Euch, Madame«, erklärte er ernst.
Isabelle nahm das Fach und stellte es auf den Schreibtisch. Es maß etwa zwölf mal acht Zoll und war drei Zoll hoch. Nach kurzem Zögern strich sie über den Deckel und nahm ihn langsam ab. Jacques Guillot leuchtete mit der Kerze, sodass man den Inhalt besser erkennen konnte: ein Dolch, eine alte Uhr, eine Miniatur, die eine Frau mit rotem Haar und hellen Augen darstellte; einige sorgsam gefaltete und mit Wachs versiegelte Dokumente sowie eine kleine Lederbörse, die zweifellos mit klingender Münze gefüllt war. Isabelle schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Waffe mit dem fein geschnitzten Heft.
»Oh, mein Gott!«
»Habt Ihr diese Gegenstände schon einmal gesehen, Madame? Wisst Ihr, wem sie gehören?«
Mit zitternder Hand strich Isabelle über den Griff des Dolchs. Dann nahm sie die Uhr, öffnete sie und las die Gravierung: Iain Buidhe Campbell.
»Madame?«
»J … ja. Sie gehören einem Mann, den ich vor Jahren kannte.«
Jacques Guillot nahm die Waffe und betrachtete sie. Dann legte er sie in den Kasten zurück und beugte sich über eines der Dokumente.
»Erlaubt Ihr mir, es zu öffnen?«
Stumm vor Erschütterung nickte Isabelle nur. Jacques Guillot brach das Siegel mit der Stahlspitze des Dolchs und überflog dann das Schreiben.
»Es handelt sich um ein Testament …«, erklärte er und sah zu ihr auf. »Das Testament eines Alexander Colin Macdonald. Ich glaube, Ihr kennt diesen Mann gut.«
»Ja, er ist ein Freund.«
Er sah forschend in ihre grüngoldenen Augen, wünschte sich, er werde dort nicht sehen, was er fürchtete, und wartete auf weitere Erklärungen, die jedoch nicht kamen.
»Euer Name steht auch darin, Madame«, erklärte er ein wenig kühl.
Mit zittrigen Händen nahm Isabelle das Dokument, das er ihr reichte, und versuchte es zu entziffern. Doch der Text war auf Englisch verfasst. Sie konnte nur erkennen, dass tatsächlich an zwei Stellen ihr Name auftauchte. Fragend schaute sie auf und bat den Partner ihres Mannes, ihr das Testament zu übersetzen. Verärgert nahm Jacques Guillot das Dokument und gehorchte mit spröder Stimme.
»Alles in allem legt dieser Macdonald fest, wie mit seinem Hab und Gut verfahren werden soll. Achtundsechzig Pfund sind an seinen Vater in Schottland zu schicken. Die Uhr und das Porträt sind für seinen
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