Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
eigenartig: zu viel Geld im Spiel, und zu viel Geheimnistuerei …
Isabelle hatte das Gefühl, dass sich der Raum um sie drehte, immer schneller. Das musste sie falsch verstehen! Ihr zartfühlender Ehemann konnte doch nicht mit einem so hinterhältigen Menschen wie Étienne unter einer Decke stecken! Nein, der andere musste ihn manipuliert haben! Niemals, wirklich niemals hätte Pierre auf eigene Faust bei einer solchen Geschichte mitgetan.
Van der Meer und seine Männer seien einem »Überfall aus dem Hinterhalt« zum Opfer gefallen, hatte Étienne bei seiner Rückkehr bekräftigt. Er hatte das Taufkreuz und Alexanders Dolch bei sich gehabt. War die Reise, auf der er Alexanders Weg gekreuzt hatte, nicht genau die gewesen, von der in diesem Vertrag die Rede war? Van der Meer hatte viele Feinde, hatte Pierre ihr versichert. Waren diese Feinde die kanadischen Händler, die während der Wochen vor dem Überfall regelmäßig im Arbeitszimmer ihres Mannes zusammengekommen waren? Merkwürdigerweise waren diese Männer nach dem Angriff nie wieder aufgetaucht … Auch Étienne hatte sich seitdem nur zweimal blicken lassen.
Wenn sie darüber nachdachte, hatte ihr Bruder seit Pierres Tod ein eigenartiges Verhalten an den Tag gelegt. Sie hatte ihn sogar einmal beim Herumwühlen im Arbeitszimmer ertappt. Er hatte ihr eine vage Erklärung gegeben, die sie ihm in ihrer Naivität abgenommen hatte: Er suche nach einer Landkarte, die er angeblich bei seinem letzten Besuch bei seinem Schwager vergessen hatte.
Als Jacques Guillot sie seinen »goldenen Lichtstrahl« genannt hatte, hatte das Wort »Gold« sie an ein Gespräch zwischen Pierre und Étienne erinnert, von dem sie ein paar Wortfetzen aufgeschnappt hatte. Pierre hatte sich ereifert – was sie erstaunt hatte, weil das nur höchst selten vorkam – und Étienne gebeten, nicht mehr von dem verlorenen Gold zu sprechen … Das verlorene Gold? Sollte es sich dabei um das Gold des Hollandais’ handeln, über das so viel geredet wurde? Bis jetzt hatte sie dem Gerücht keinen Glauben geschenkt. Die Leute erzählten so viel! Aber nun ergab das alles einen neuen, erschreckenden Sinn.
Verstört las sie den Vertrag noch einmal konzentriert durch. Gewinne … Jacques Guillot hatte etwas über irgendwelche Gewinne gesagt. Da war es: »Zehn Prozent des Gewinns bei der Übergabe der Ware«, und weiter: »zehn Prozent für jeden der Partner«. Die Ware… Hier ging es nicht um Pelze, sondern um Gold! Wenn in diesem Vertrag von einer Expedition die Rede war, die zweitausend Pfund kostete, dann hätte sie ja … wie viel einbringen müssen? Das Doppelte oder Dreifache in Edelmetall? So unerbittlich fügten sich jetzt die Teile des Rätsels zusammen, dass sie aufstöhnte: der Überfall … das verlorene Gold … erwiesene Dienste … Und dann waren da die Daten … Ende Juni 1764. Da war es zu spät gewesen, um nach Grand Portage zu reisen, aber nicht, um die Männer abzufangen, die sich auf dem Rückweg befanden … nicht, um van der Meer, den Hollandais, zu überfallen. Aber worin genau mochte dieser Dienst bestehen, den Étienne Pierre erwiesen hatte?
»Für erwiesene Dienste, für erwiesene Dienste … Aber was denn nun, Herrgott! Was hast du getan oder solltest du tun, Étienne Lacroix, das einen so wertvollen Lohn verdient hätte? Was wolltest du, Pierre, für zweitausend Pfund erkaufen?«
Als ihr die Wahrheit aufging, zerknüllte sie zornig den Vertrag und warf ihn quer durch den Raum. Pierre und Étienne … Komplizen bei einem Mord … Nein, Pierre war kein Mörder gewesen ! An so etwas Abscheulichem hätte er sich nie beteiligt! Niemals! Wieder sah sie Alexanders Miene vor sich, als er das Taufkreuz erblickt hatte. Sie dachte daran, wie er ihrer Frage, was an dem Tag des Massakers geschehen sei, ausgewichen war. Bestimmt hat er mich für tot gehalten … Er hatte ihr die schreckliche Wahrheit nicht sagen wollen.
»Warst du das, Étienne? Hast du den Hollandais und seine Männer getötet? Hast du versucht, Alex zu ermorden? Oh mein Gott! Dass du in der Lage dazu wärest, weiß ich. Du bist ein Ungeheuer! Den Vater meines Sohnes … Du hast versucht, den Vater meines Kindes zu töten! Du hast Pierre gesagt, Alexander sei tot! Du hast ihm sogar erzählt, du hättest ihn begraben! Du bist ein Lügner! Möge der Himmel dich mit einem Blitz schlagen ! Soll der Teufel dich holen!«, schrie sie und sank auf dem Fußboden zusammen. »Und du, Pierre«, schluchzte sie,
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