Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Richtung, in die Alexander verschwunden war. Dann begegnete er Isabelles Blick und bemerkte den ungewöhnlich hohen Wasserstand im Kanal. Als ihm der Ernst der Lage klar wurde, überließ er seine Frau Marie. Gefolgt von den MacInnis-Brüdern rannte er zum Wehr. Offenbar hatte es dem beträchtlichen Druck des Wassers nicht standgehalten, das sich bei den starken Regenfällen Anfang September aufgestaut hatte.
»Gabriel! Gabriel!«
Alexander fürchtete das Schlimmste. Er folgte dem wütend strudelnden Wasser und kletterte den Hügel hinauf.
»Gabriel!«
Weder sein Sohn noch das kleine Mädchen waren zu sehen. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er sie bestimmt gesehen hätte, wenn sie von der Strömung mitgerissen worden wären.
»Gabriel! A Thighearna mhór! Mo bhalach! « Großer Gott! Mein Junge!
Sein panischer Blick schweifte über den Teich, der sich leerte und dabei Baumstämme und Pflanzenwuchs mitnahm, die eine Barriere vor dem Damm bildeten. Wenn sie ertrunken waren, würden die Körper ohnehin erst nach mehreren Stunden an die Oberfläche kommen… Heftig schüttelte er den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Mit einem Mal zog ein metallisches Aufblitzen im Gras seine Aufmerksamkeit auf sich. Er trat heran: eine Axt … Er hob das Werkzeug auf, untersuchte es und runzelte die Stirn. Es gehörte ihm.
»Gabriel …«, murmelte er.
Er hob den Kopf und sah gerade noch einen roten Haarschopf durch sein Blickfeld huschen. Zornig und erleichtert zugleich stürzte er schreiend auf den Kleinen zu.
»Gaby!«
Als er ihn erreichte, kauerte Gabriel sich am Fuß einer Birke zusammen und brach in Tränen aus.
»Das … wa’ ein Ve’sehen. Ich wusste ja nicht, dass die Schnu’ den Schiebe’ geschlossen hält… Ich hab das nicht mit Absicht getan …«
Der Junge war sich nur zu bewusst, was für eine große Dummheit er begangen hatte. Vor Angst erstarrt sah er in Monsieur Alexanders tiefblaue Augen auf. Er hörte, wie dieser schimpfte und fluchte und dabei auf seine eigentümliche Art das »r« rollte. Dann wurde es still, und er glaubte schon, wieder allein zu sein. Doch da spürte er, wie zwei Arme ihn umschlangen und ihn so fest drückten, dass er keine Luft bekam.
»Sei mir nie wieder ungehorsam, mein Junge. Nie wieder! Hast du verstanden?«
»Ich wa’ nicht ungeho’sam.«
»Die Axt … Ich hatte dir ausdrücklich verboten, sie anzurühren.«
»Die hat Otemin genommen… um den Fischen den Kopf abzuschlagen.«
»Und wer hat nun die Schnur durchtrennt, die den Schieber der Schleuse geschlossen hielt?«
Ein langes Schweigen trat ein. Gabriel schaute immer noch zu Boden.
»Das wa’ ich … Ich wollte eine längere Angelschnur. Otemin hatte schon zwei Fische gefangen und ich noch keine. Ich dachte, meine Schnur wäre zu kurz.«
»Herrgott! Und wo ist Otemin jetzt?«
Alexander nahm seinen laut schniefenden Sohn in die Arme.
»Sie hat sich versteckt, weil sie Angst hat, dass Munro sie ausschimpft. Ich bin zurückgekommen, um die Axt zu holen, die ich vergessen hatte … Damit ich nicht auch deswegen gescholten werde …«
Alexander war gerührt von Gabriel Geständnis und dem Umstand, dass er sich so große Mühe gab, die »r«s richtig auszusprechen, um ihn milder zu stimmen.
»Die Axt ist nicht so wichtig … Ist dir eigentlich klar, dass du den Damm zerstört und das Lager überschwemmt hast und um ein Haar deine Mutter ertränkt hättest …? Du hast mir eine Höllenangst eingejagt, Gabriel! Ich werde dich bestrafen müssen.«
»Ich weiß …«
Voller Gewissensbisse schmiegte sich das Kind an Alexander, der den Rückweg zur Hütte antrat. Unterwegs begegneten sie den drei anderen Männern, die erleichtert wirkten. Ein Teil der Ernte war verloren, und sie würden härter arbeiten müssen, um den fehlenden Mais zu ersetzen. Aber Gabriel und Otemin waren heil und gesund, und das war die Hauptsache.
Mit einem kräftigen »Plonk!«, das von einem Wutschrei begleitet wurde, spaltete die Axt das Holz. Alexander hob die Stücke auf und warf sie heftig auf den Haufen mit den Scheiten, die er schon gespalten hatte. Dann nahm er ein weiteres Stück, setzte es auf den Hackklotz und begann knurrend von neuem. Ein Schweißtropfen kitzelte ihn an der Schläfe und lief bis zum Kinn hinunter. Mit einer schroffen Bewegung wischte er ihn weg. Unaufhörlich hallten Gabriels Worte in seinem Kopf wider: »Mein ’ichtige’ Vate’ hat mich nie geschlagen!«
Das hatte ihm
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