Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Kiefer.‹ Wie es Ahorn vorhergesagt hatte, wurde der König des Waldes ärgerlich. ›Birke, du wirst zu stolz!‹, schrie er laut, damit alle es hörten. ›Du musst lernen, demütig zu sein!‹ Dann holte er mit einem Ast kräftig aus und schlug gegen Birkes schöne Rinde. Die Nadeln rissen seine weiße Haut an Tausenden von Stellen auf. Große Kiefer war zufrieden. ›Alle sollen dich ansehen und sich daran erinnern, dass Eitelkeit etwas Schlechtes ist‹, erklärte er noch.«
»Haben deswegen die Birken diese schwarzen Stellen, die wie Narben aussehen?«, fragte Gabriel, der die Behälter mit Ahornsirup ganz vergessen hatte.
»Hat Große Kiefer auch deinen Vater geschlagen?«, erkundigte sich Otemin.
»Otemin! Bezaan!«
Mikwanikwe warf ihrer Tochter einen drohenden Blick zu.
»Aber Gabys Papa hat einen ganz zerkratzten Rücken, wie die Rinde einer Birke.«
»Bezaan!«
Gabriel, der puterrot angelaufen war, sprang auf.
»Mein Papa ist nicht eitel! Das war keine Strafe, die ihn De … de …«
»Demut«, fiel Isabelle seufzend ein. »Kommt, Kinder! Lauft nach draußen und holt noch mehr Behälter mit Baumsaft.«
»Er hat mir gesagt, das sei eine mutige Tat gewesen …«, fuhr sein Sohn fort und öffnete die Tür der kleinen Schutzhütte.
Seine Worte gingen in dem Geschrei eines Schwarms Wildgänse unter, die über den Himmel zogen. Isabelle stand auf, reckte ihre eingeschlafenen Beine und steckte zusammen mit dem süß duftenden Dampfschwall, der nach draußen zog, den Kopf durch die Tür. Sie bewunderte die schönen Vögel mit dem schneeweißen Bauch, die laut flatternd über die Baumkronen hinwegzogen. Dann musterte sie den Waldrand.
»Eigentlich müssten sie bald zurück sein…«
Alexander und Stewart waren vor drei Tagen aufgebrochen, um die Fallen zu überprüfen. Üblicherweise war dies die Zeit, die sie für ihre Runde benötigten, je nachdem, was sie gefangen hatten. Am anderen Ende des Lagers mühten Francis und Munro sich mit dem Entasten eines Baumstammes ab. Der Kamin der Blockhütte rauchte. Marie litt seit zwei Tagen unter starkem Fieber und hütete mit einem Breiumschlag aus Zwiebeln das Bett.
»Wie geht es dem Kind heute?«
Isabelle hatte Mikwanikwe nicht kommen hören und fuhr herum.
»Dem Kind? Ach, dem geht es gut.«
Die Indianerin betastete behutsam Isabelles dicken Bauch und nickte zufrieden.
»Es wird ein Mädchen.«
»Das sagt Alexander auch!«, rief Isabelle lachend aus.
Mikwanikwe kehrte zu ihrer Bank zurück, wo sie die Korkschachtel stehengelassen hatte, die sie mit watap zusammennähte, während sie das Kochen des Ahornsirups überwachte. Isabelle strich über ihren straff gespannten Bauch und ließ den Blick zu den Bäumen schweifen, wo die Kinder den Baumsaft in einem Ledereimer sammelten. Als sie entdeckt hatte, dass sie zum zweiten Mal schwanger war, hatte sie das zunächst in Panik versetzt. Mit Grauen erinnerte sie sich an die Niederkunft ihrer Schwägerin Françoise, bei der man den kleinen Maurice hatte zerstückeln müssen, und an ihre eigene Entbindung, die so lang und schwer gewesen war. Außerdem bereitete ihr die Vorstellung, ihr Kind an einem so abgelegenen Ort zur Welt bringen zu müssen, große Sorgen. Was würde geschehen, wenn es Schwierigkeiten gab?
Mikwanikwe hatte versucht, sie zu beruhigen, indem sie ihr erklärt hatte, welche Körperhaltungen die Geburt leichter vonstatten gehen ließen. Ihre Worte widersprachen allem, was die Hebammen im Zimmer einer Gebärenden zu empfehlen pflegten. Aber die Indianerin hatte ihr Kind allein zur Welt gebracht, mitten in einem heftigen Gewitter, und ihr Sohn war vollkommen gesund. Sie musste ihr vertrauen. Etwas anderes blieb ihr ohnehin nicht übrig.
Während ihre Freundin sich wieder an die Arbeit machte, lächelte Isabelle. Sie musste es zugeben: Mikwanikwe und sie waren einander nähergekommen. Den ganzen Winter über hatte die Eingeborene ihr geduldig gezeigt, wie man die feindselige Natur zähmt und das anscheinend Unmögliche vollbringt. Sie hatte sie gelehrt, dass man in den Wäldern nicht gefangen, sondern zu Gast war. Man brauchte nur nach ihrem Rhythmus zu leben und ihre Regeln zu achten, dann konnte man dafür alle Reichtümer ernten, die sie boten. Im Gegenzug hatte Isabelle Mikwanikwes Horizont erweitert und ihr von der christlichen Religion erzählt. Die Ojibwa-Frau hatte ein ungewöhnliches Interesse an den Katechismus-Stunden entwickelt, die sie ihr am Sonntagnachmittag, wenn Duglas
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