Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
gehabt hatte.
Seit einigen Tagen liebkoste Sawaniyottin , der Südwind, das Astwerk, das es jetzt müde war, sein schweres Gewand zu tragen. Sein milder Atemhauch brachte die Meisen und Seidenschwänze zum Singen. Vor Freude darüber schmolz der dicke weiße Mantel, der über der Landschaft lag. Doch noch mochte der Winter das Land der Anishnabek nicht freigeben, und der Kiwetin ließ Eiszapfen an Ästen und Felssimsen wachsen. Aber dann trug, wie jedes Jahr und wie es Nanabozos Wille war, Sawaniyottin den Sieg davon. Mit seinem warmen Hauch befreite er die Flüsse, damit sie wieder fröhlich plätschern konnten. Sein sanfter Gesang weckte die Tiere aus ihrem Winterschlaf. So zärtlich drang er in die Erde, dass sie jeden Tag ein wenig mehr auftaute. Die Natur ließ sich vom Frühling erobern, erwachte zu neuem Leben und frohlockte.
Der Dampf schlug sich auf den Ästen der Bäume nieder, die rund um die Zuckerhütte standen, sodass sie aussahen wie eine Auslage mit gewaltigen Kandiszuckerlutschern. Die Ausdünstungen ließen Gabriel das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das kleine Schleckermaul vermochte den Blick nicht von den Tüten aus Rinde zu wenden, die Mikwanikwe mit einer bernsteingelben, zähflüssigen Substanz füllte. Der Knabe warf seiner Mutter einen Blick zu, aber die saß an dem einzigen Fenster der Hütte und war in die Betrachtung der Landschaft versunken. Doch die Ojibwa-Frau erwischte ihn, als er die Hand nach dem flüssigen Ahornsirup ausstreckte, und schalt ihn aus.
»Du wartest bis nach der Fastenzeit, Mushkemush kemit 52 ! Und außerdem ist das zu heiß. Du verbrennst dir die Zunge.«
Gabriel ließ sich neben Otemin, die genau wie er den abkühlenden dicken Sirup beäugte, schwer auf die Bank fallen und brummte. Mikwanikwe setzte sich ihnen gegenüber auf eine andere Bank und lächelte.
»Ich erzähle euch eine Geschichte …«
Die Ojibwa-Frau schaute kurz zu ihrem Sohn Duglas, der, behaglich in Felle gehüllt, in der Wiege schlief, die Munro zu Beginn des Winters für ihn angefertigt hatte. Dann strich sie das Bärenfell glatt, das auf ihren Knien lag, und begann.
»Dies ist die Geschichte über die Lektion, die Große Kiefer Kleiner Birke erteilte… Vor sehr langer Zeit konnten die Bäume noch miteinander sprechen. Wenn eine milde Brise wehte, plauderten sie ruhig. Wenn der heftige Wind sie schüttelte, sprachen sie von ihrer Angst und ihrem Mut. Große Kiefer ist gebieterisch, Ahorn ist köstlich, Ulme ist ein Riese, Eiche ist fest, Thuja ist biegsam und Birke wunderschön. Alle sind nützlich für die Anishnabek , die von ihrem Saft und ihren Früchten essen, unter ihren Zweigen oder ihrer Rinde Zuflucht suchen und ihr totes Holz gebrauchen, um sich zu wärmen und zu kochen. Eines Sommertags, als der Wald in der Sonne sang, fand Birke sich in seinem schneeweißen Kleid so wunderschön, dass er darüber eitel wurde. Er beschloss, sich von den Lustbarkeiten fernzuhalten, und wollte nicht zusammen mit den anderen Bäumen fröhlich mit seinen Ästen wedeln. Besorgt fragte Ahorn ihn, ob er krank sei. ›Oh nein!‹«, rief Mikwanikwe und ahmte Birkes herablassenden Ton so gut nach, dass die Kinder lachen mussten, »›mir geht es sehr gut. Aber ich will meine schöne weiße Rinde nicht beschmutzen. Nur zu, ihr mit eurer gewöhnlichen Rinde, unterhaltet euch ruhig ohne mich!‹ Ahorn gefielen Birkes Worte nicht. Er dachte, Große Kiefer würde sicher sehr ärgerlich sein, sie zu hören… Große Kiefer ist der König des Waldes. Alle schulden ihm Achtung und müssen seinen Befehlen gehorchen, damit im Wald das Gleichgewicht nicht gefährdet ist. Rasch sprachen sich Birkes Worte im Wald herum, und alle Bäume taten sich gegen ihn zusammen. ›Du bist eingebildet!‹, sagte Ulme zu ihm. ›Wenn Große Kiefer dich hören würde, wäre er sehr unzufrieden!‹, rief Thuja aus. ›Was Große Kiefer denkt, ist mir ganz gleich‹, erklärte Birke mit hochmütiger Miene und wedelte barsch mit seinen schönen dunkelroten Ästen und spitzenfeinen Blättern. ›Ich bin der Schönste und brauche mich vor dem König nicht zu beugen!‹ Aber Große Kiefer hatte einen leichten Schlaf. Als er seinen Namen hörte, erwachte er, und seine langen Nadeln erbebten ungehalten. ›Was höre ich da?‹«, fragte Mikwanikwe und ließ ihre Stimme tief und ernst klingen. »Alle Bäume begannen zu zittern; ein großer Radau war das. ›Ich bin schöner als Ihr, daher brauche ich Euch nicht zu grüßen, Große
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