Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Kerzenleuchter, der fast auf den Boden fiel. Nachdem er ihn wieder fest hingestellt hatte, drehte er sich um. Ein Schatten tauchte auf, wie im Traum. Er blinzelte. Eine heftige Bewegung, und das Kleidungsstück blähte sich um die Frauengestalt wie der Blütenkelch einer Lilie. Er spürte, wie ihm das Herz leichter wurde. Wie schön sie in diesem Moment war! Lebten nicht die Nymphen tief im Wald, fern von den Menschen, in einer unwirklichen Welt, die nur die kennen, die daran glauben?
»Wo warst du?«
Ihre ausdruckslose, kalte Stimme holte ihn in die Realität zurück.
»Im Obstgarten.«
»Um dein Wiedersehen mit Nonyacha mit einem Zechgelage zu begehen?«
Langsam schüttelte er den Kopf und sah zur Decke auf. Das Trappeln schien lauter geworden zu sein. Wie viele Mäuse mochten sie beherbergen? Hoffentlich waren es keine Ratten. Auf jeden Fall mussten sie die Tiere so rasch wie möglich vertreiben, wenn sie nicht wollten, dass sie ihre Vorräte plünderten.
»Du hast getrunken, Alex! Hast du etwa die Absolution in einer Flasche gesucht? Glaubst du, das wird dir helfen? Hast du denn einen Ausweg gefunden?«
»Absolution? Einen … Ausweg? Habe ich etwas getan … a ghràidh ?«
Isabelle trat auf ihn zu. Die Bodendielen knarrten. Das Geräusch machte ihm klar, dass sie keine Traumgestalt war, sondern eine reale und empfindsame Frau, die er verletzen konnte, obwohl er das nicht wollte. Der Gedanke quälte ihn, dass er ihr unvermeidlich wehtun musste.
»Ob du … etwas getan hast? Wäre es nicht an dir, mir das zu sagen?«
Er sah ihre roten, angeschwollenen Augen und die noch vor Tränen glänzenden Wangen. Als er sie so aufgelöst erblickte, überlegte er, ob Nonyacha ihr etwa noch einen Besuch abgestattet hatte, nachdem er ihn mit dem Rest der Flasche Branntwein am Fuß des fünften Apfelbaums zurückgelassen hatte. Sie wusste etwas, aber was genau?
»Vielleicht überlegst du ja noch, wie du es mir mitteilen und mir alles erklären willst?«
Er erbleichte. Jetzt war er sicher, dass sie es wusste. Er überlegte schon seit Stunden, wie er ihr sagen sollte, dass er mit Nonyacha zum Rivière du Lièvre gehen würde. Würde sie Verständnis für ihn haben?
»Ist Marie schon zurück?«, fragte er überflüssigerweise, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Ja, sie schläft schon lange. Offenbar stören die verflixten Mäuse sie dabei nicht! Wir müssen wirklich etwas tun, um diese Biester loszuwerden!«
Sie hob den Kopf zu dem immer stärker werdenden Lärm, der ihr eine neue Furcht einflößte. Ein lautes Krachen ließ beide zusammenfahren. Alexander, der erleichtert über die Ablenkung war, ging zu der schmalen Leiter.
»Ich gehe nachsehen!«
Die Leiterstufen knarrten. Der Schotte schob die Platte weg, die die Luke zum Dachboden versperrte. Isabelle reichte ihm die Kerze und die drei Mausefallen, die sie aus den Ecken der Küche geholt hatte. Er steckte den Kopf durch die Öffnung und ließ das goldfarbene Kerzenlicht durch den Raum schweifen. Dann erstarrte er, als ein Paar schwarze Knopfaugen ihn ansahen.
»Aber das ist ja …«
Er verstummte abrupt. »Was ist?«, fragte Isabelle, neugierig geworden durch sein plötzliches Schweigen.
Ein Bild der Verwüstung, wohin Alexander auch sah: Mehl-und Maissäcke waren aufgerissen und ihr Inhalt über den Boden verteilt. Eine unbeschreibliche Unordnung herrschte, und mittendrin saß das Tier und schaute ihn leicht verwirrt an. Plötzlich begann es zu knurren, hob die Lefzen und bleckte seine kleinen Reißzähne. Schaumiger Speichel troff ihm aus dem Maul. Entsetzen ergriff Alexander.
»Mo chreach!«
»Was ist, Alex?«
Bandit richtete sich auf die Hinterpfoten auf und tat ein paar Schritte auf Alexander zu. Aber er verlor das Gleichgewicht; sein Gesäß rutschte zur Seite, und er sackte schlaff zusammen.
»Hol mir mein Gewehr, Isabelle!«
»Alex?«
Sein fester Ton erweckte ihre Neugierde. Er wiederholte seinen Befehl energischer.
»Ich sagte, hol mir mein Gewehr! Weck Gabriel und Marie vorsichtig und bring sie nach draußen.«
Alexander ließ den Waschbär nicht aus den Augen. Er hörte, wie Isabelle in die Küche lief und zurückkam. Der Gewehrkolben berührte seinen Oberschenkel, und er griff langsam danach. Isabelles Stimme drang zu ihm; sie weckte die beiden anderen Bewohner der Hütte. Marie antwortete ihr mit hellerer Stimme, und dann stellte Gabriel die unvermeidliche Frage. Seinem Vater schnürte es die Kehle zu. Isabelle trat wieder zur
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