Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie

Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie

Titel: Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
Vom Netzwerk:
fleischlichen Hülle? In seinem Kopf befand sich nichts als eine große Leere. Er wusste nichts mehr, erinnerte sich an nichts.
    Die Schleiftrage wurde angehoben und bildete einen steilen Winkel zum Boden, sodass er seine Begleiter sehen konnte. Er erblickte unbekannte Gesichter. Einige wirkten verschlossen, andere warfen ihm mitfühlende Blicke zu. Er bemerkte zwei weitere Schleiftragen. Die erste bog sich unter einem Rehkadaver, die zweite unter Pelzballen. Jäger … Diese Männer waren Jäger, und er war das Wild, das sie gefangen hatten.
    Unter Stimmengemurmel und dem Geräusch, mit dem Äste über den Boden schleiften, setzte der Zug sich in Bewegung. Der Verletzte erwachte aus seiner Erstarrung. Sein Bein schmerzte entsetzlich. Er sah zu dem blauen Himmel auf, der durch die Lücken im Astwerk der hohen Rotulmen und Schwarzeschen schien. Darauf konzentrierte er sich und versuchte, alles andere zu vergessen.
    Stöhnend fuhr er mit der Zunge über seine aufgesprungenen Lippen. Etwas angenehm Warmes strich über seine Wange und riss ihn aus seinem Dämmerzustand. Neben ihm ging eine alte Frau, die ihn zärtlich und mitfühlend betrachtete. Sie hielt ihm eine Kürbisflasche an die Lippen. Gierig trank er von dem Wasser.
    »Miigwech  …«, murmelte er.
    Ohne ein Wort schüttelte die Frau ihre von Grau durchzogenen Zöpfe und verzog die schmalen Lippen zu einem freundlichen Lächeln, das einen Moment lang die Falten auf ihren Wangen zum Verschwinden brachte.
    Ein Sonnenstrahl blendete ihn, und er schloss die Augen. Er genoss die Wärme, die er auf dem Gesicht spürte, ließ seine vom Fieber glühenden Lider zufallen und zog sich in die Welt in seinem Inneren zurück. Er hatte große Schmerzen. Der durchdringende Schrei eines Seeadlers ließ einen Schwarm schwatzhafter Zedernseidenschwänze verstummen. An seinem Ohr brummte eine Fliege. Er ließ sich von den Bewegungen der Schleiftrage wiegen und schlief langsam ein.
     
    Mai 1769
    Auf seinen Stock gestützt, beobachtete der Mann den Himmel, der sich mit glühenden Farben überzog, und sog die frische Luft ein. Sie trug den Geruch des Tangs heran, der sich in langen, dunklen Girlanden auf den Ufern türmte. Bald würde der süße Duft blühender Apfelbäume sich über der Stadt verbreiten. In seinem Rücken konnte er beinahe das Gewicht der Steine spüren, aus denen die Häuser errichtet waren, die sich um einen kleinen Platz auf dem Kap aus Schiefergestein zusammendrängten. Québec, die Herrliche. Québec, die Königin auf ihrem kolonialen Thron, das Alexandria Französisch-Amerikas. Die eroberte Stadt hatte die Spuren des Krieges und ihre Maske aus Ruß abgestreift und war als Schönheit wiedererstanden.
    Durch den florierenden Handel wuchsen die Vorstädte, in denen Handwerker und Seeleute lebten, gewaltig an, und wacklige Holzhütten, in denen es vor Kindern nur so wimmelte, schossen wie Pilze aus dem Boden. Kühl und berechnend beobachteten die englischen Herren aus ihren Fenstern, die auf die äußerst elegante Rue Saint-Louis hinausgingen, die Geburt dieser neuen Vielvölkergesellschaft, deren Hierarchie auf der Sprache beruhte. Die Eroberten, Adlige und Bauern gleichermaßen, passten sich der englischen Oberschicht an und veränderten zugleich ihre Sprechweise ein wenig.
    Gewiss, der Pulverdampf hatte sich verzogen. Doch die Kanadier, die mit ihrem honigsüßen Lächeln so unterwürfig wirkten, trugen insgeheim schwer an ihrer Demütigung. Zwar hatten die Engländer in Neu-Frankreich kein so furchtbares Exempel statuiert wie in Akadien oder den Highlands, aber dennoch hatten sie dem Land einen schweren Schlag versetzt, der bestimmt lange nicht in Vergessenheit geraten würde … Aber tief verankerte Wurzeln widerstehen jedem Sturm.
    Das Läuten einer Glocke hallte über die glatte Wasseroberfläche und übertönte das dumpfe Lärmen des Hafens. Wachwechsel, dachte Alexander und ließ den Blick über die nackten, sich leicht wiegenden Masten schweifen, ein veritabler Wald, der zum Reisen einlud.
    Sechs flache, mit Menschen, Vieh, Reisetruhen und Fässern beladene Kähne näherten sich. Vor einer knappen Stunde war eine Brigg aus Southampton, die ihren Fockmast verloren hatte, vor Anker gegangen. Soeben hatte der Hafenmeister das Schiff verlassen: Offenbar war auf der Reise kein Fieber ausgebrochen. Bald würde es auf dem Pier vor eiligen Seeleuten und verstörten Passagieren wimmeln. Alles musste vor dem Dunkelwerden ausgeladen werden, denn dann stellten

Weitere Kostenlose Bücher