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Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie

Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie

Titel: Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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die er nicht kam, sodass er sie jetzt mit den Gesichtern, die ihn verfolgten, verbinden konnte. Sein Besuch löste gleichsam einen Erdrutsch aus, und Alexander wurde von einer Flut von Erinnerungen aus neuerer Zeit überschwemmt, die ihren Platz neben den anderen fanden und das gesamte Bild vervollständigten.
    Jetzt erinnerte Alexander sich an Nonyachas Besuch, das entsetzliche Massaker, dem auch Tsorihia und der kleine Joseph zum Opfer gefallen waren, sein Wiedersehen mit John … und an das Feuer, das Red River Hill verwüstet hatte. Er war niedergeschmettert, und die Unruhe zerfraß ihn innerlich. Was war geschehen? Wo war seine Familie geblieben? Warum suchte niemand nach ihm? Was war aus Isabelle und den Kindern geworden? Und aus John und Munro? All diese Fragen, auf die er keine Antwort fand, brachten ihn beinahe um den Verstand.
    Die Menschen um ihn herum flüsterten. Sie zuckten die Achseln, murmelten etwas und räusperten sich verlegen, um sich dann abzuwenden. Nein… seit dem Spätherbst hatte man keinen der Bewohner von Red River Hill gesehen. Alexander wusste, dass man ihm nicht alles sagte.
    Als er die Ungewissheit nicht länger ertrug, flehte der Schotte Jean Nanatish an, ihn aufs Nordufer zu bringen. Er musste sich Klarheit verschaffen. Da verdüsterte sich die Miene des Algonquin. Er wandte die dunklen Augen ab und richtete den Blick auf das Feuer, das im Kamin des kleinen Holzhauses brannte.
     
    »Mein Freund«, begann er, »seit Anfang September hatte ich nichts von Euch gehört, und nachdem niemand aus Red River Hill gekommen war, um Wintervorräte einzukaufen, habe ich mir Sorgen gemacht und bin Ende November, vor den ersten schweren Schneefällen, dorthin gegangen … Alles war verlassen«, erklärte Nanatish mit bedrückter Stimme. »Die Hütten, in denen Munro und die MacInnis-Brüder gewohnt hatten, waren ausgeräumt und der Witterung überlassen.«
    Der Schotte packte seinen Freund am Arm.
    »Und meine?«
    »Bis auf die Fundamente niedergebrannt.«
    Alexander bekam keine Luft mehr. Er stieß einen verzweifelten Schrei aus.
    »Wo ist Isabelle? Wo sind meine Frau und meine Kinder?«
    Nanatish rief um Hilfe, und zu mehreren Männern beruhigten sie den Verletzten und hielten ihn nieder. Auf keinen Fall durfte die Wunde, die endlich zu heilen begonnen hatte, wieder aufreißen. Das Bein hatte sich entzündet, und es würde noch einige Zeit dauern, bis er es wieder gebrauchen konnte. Alexander hatte versteckt in einem Erlendickicht, in der Nähe eines Bachs, gelegen und großes Glück gehabt, dass die Hunde der Algonquin ihn gewittert hatten. Er war in einem furchtbaren Zustand gewesen, halb verhungert und erfroren, und hatte sich einen bösen Bruch zugezogen.
    Mit ernstem Gesicht beugte der Indianer sich über den Schotten und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Als guter Freund hatte er die schwierige Aufgabe, ihm die Wahrheit zu sagen.
    »Ich habe Gräber gesehen, Alexander«, sagte er langsam. »Zwei, genau gesagt.«
    »Zwei?«
    Zwei Gräber … zwei Gräber … Alexander war, als hallten die Worte im Rhythmus seines Herzschlags in seinem Schädel wider. Zwei Gräber … zwei Gräber … Das war unerträglich. In dem verrauchten Raum, in dem er das Krankenlager hütete, vermeinte er zu ersticken. Nach und nach entfalteten die Worte ihre ganze Wirkung und trafen ihn mit unerhörter Wucht. Mühsam holte er Luft und stieß einen langgezogenen Klagelaut aus.
    Er spürte, wie sein Geist sich von ihm löste und nach Red River Hill reiste. Unermesslich bekümmert schloss er die Augen und besuchte sein bescheidenes Reich. Er sah das Maisfeld, ein grünes Band auf der schwarzen Erde. Inmitten der Pflanzen, die sich im heißen Sommerwind wiegten, erblickte er Gabriels Karottenschopf. Der Junge, dessen Gesicht von der Sonne und der Aufregung rot angelaufen war, hatte eine Schlange um sein Handgelenk gewickelt. Hinter ihm kicherte Otemin und versuchte, den Schwanz des Reptils zu fassen.
    Er sah Munro und die MacInnis-Brüder. Ihre Hemden waren schweißnass, und sie versuchten, den Strunk einer Rotfichte aus dem Boden zu hebeln. Munro sang aus vollem Halse, um die Gruppe anzufeuern und den Rhythmus vorzugeben. Nicht weit entfernt war Mikwanikwe, die Duglas in einem selbst gebauten Gestell auf dem Rücken trug, damit beschäftigt, eine Birke zu entrinden, und löste große Rechtecke ab, die sie vorsichtig zusammenrollte und dann auf einen Schlitten legte, vor dem Lourag angespannt

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