Highland-Saga Bd. 7 - Echo der Hoffnung
jedenfalls waren sie fast alle üppig gebaut.
Nicht jedoch Nessie. Er konnte ihren Körper als Schatten durch ihr dünnes Musselinhemd sehen – er hatte sie unwissentlich aus dem Schlaf geweckt -, als sie jetzt vor dem Kamin stand, um sich etwas überzuziehen. Sie hatte nicht ein Gramm mehr am Leib als bei ihrer ersten Begegnung. Damals war sie – so sagte sie jedenfalls – vierzehn gewesen, obwohl er selbst sie eher für elf gehalten hatte.
Damit musste sie jetzt etwas über dreißig sein. Sie sah immer noch aus wie vierzehn.
Er lächelte bei diesem Gedanken, und sie erwiderte sein Lächeln, während sie sich ihren Morgenrock zuband. Das Lächeln ließ sie ein wenig altern, denn sie hatte Zahnlücken, und die verbliebenen Zähne waren an den Wurzeln schwarz. Wenn sie nicht korpulent war, so lag es jedenfalls nicht daran, dass es ihr an
der Gelegenheit dazu mangelte; sie liebte Zuckerzeug und konnte in Minutenschnelle eine ganze Schachtel kandierte Veilchen oder türkisches Konfekt essen, als Ausgleich für den Hunger ihrer Jugend in den schottischen Highlands. Er hatte ihr ein Pfund gezuckerte Pflaumen mitgebracht.
»Und Ihr glaubt, so billig bin ich zu haben?«, sagte sie und zog die Augenbraue hoch, als sie ihm die hübsch verpackte Schachtel abnahm.
»Niemals«, versicherte er ihr. »Das ist nur meine Entschuldigung dafür, dass ich Euren Schlaf gestört habe.« Diese Antwort war improvisiert; eigentlich hatte er erwartet, sie bei der Arbeit anzutreffen. Schließlich war es nach zehn Uhr abends.
»Aye, nun ja, es ist Heiligabend«, sagte sie als Antwort auf seine unausgesprochene Frage. »Jeder Mann, der ein Zuhause hat, ist dort.« Sie gähnte, zog sich das Nachthäubchen vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die wilde Masse ihrer dunklen Locken.
»Und doch scheint Ihr einige Kunden zu haben«, stellte er fest. Zwei Etagen unter ihnen sang jemand, und der Salon hatte einen gut besuchten Eindruck gemacht, als er daran vorbeiging.
»Och, aye. Die ganz Verzweifelten. Ich überlasse sie Maybelle; ich will sie nicht sehen, die armen Gestalten. Mitleiderregend. Sie wollen eigentlich gar keine Frau, die Männer, die Heiligabend kommen – nur ein Feuer, an dem sie sitzen können, und ein bisschen Gesellschaft.« Sie winkte mit einer Geste ab und setzte sich, um gierig die Schleife an ihrem Geschenk zu öffnen.
»Dann möchte ich Euch frohe Weihnachten wünschen«, sagte er und beobachtete sie voll amüsierter Zuneigung. Sie steckte sich ein Stück Konfekt in den Mund, schloss die Augen und seufzte ekstatisch.
»Mmp«, machte sie und steckte sich das nächste Stück in den Mund, ohne vorher zu schlucken. Aus dem freundlichen Ton dieser Bemerkung schloss er, dass sie die guten Wünsche zum Fest erwiderte.
Er hatte natürlich gewusst, dass Heiligabend war, doch während der langen, kalten Tagesstunden hatte er dies irgendwie verdrängt. Es hatte den ganzen Tag geschüttet, beißende Nadeln aus gefrierendem Regen, der hin und wieder Verstärkung durch wütende Hagelböen bekam, und er fror, seit ihn Minnies Bediensteter kurz vor Tagesanbruch geweckt und nach Argus House bestellt hatte.
Nessies Zimmer war klein, aber elegant, und es roch angenehm nach Schlaf. Ihr riesiges Bett hatte Wollvorhänge im hochmodischen rosa-schwarzen »Queen Charlotte«-Karomuster. Müde, durchgefroren und hungrig, wie er war, spürte er den Lockruf dieser warmen, einladenden Höhle mit ihren Bergen von Daunenkissen, ihren Quilts und ihren sauberen Laken. Was würde sie wohl denken, fragte er sich, wenn er sie bat, heute Nacht ihr Bett zu teilen?
Ein Feuer, an dem sie sitzen können, und ein bisschen Gesellschaft. Nun, das hatte er, zumindest vorerst.
Ein leises Summen drängte sich in Greys Bewusstsein, wie eine im Zimmer
gefangene Fliege, die gegen ein Fenster fliegt. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und stellte fest, dass das, was er nur für einen Berg zerwühlter Bettwäsche gehalten hatte, in Wirklichkeit einen Menschen enthielt; auf dem Kissen lag der reich verzierte Quast einer Nachthaube.
»Ach, das ist nur Rab«, sagte eine belustigte schottische Stimme, und als er sich wieder umdrehte, grinste sie ihn an. »Kleiner Dreier gefällig?«
Noch während er rot wurde, begriff er, dass er sie nicht nur um ihrer selbst willen gernhatte oder wegen ihres Talents für die Spionage, sondern zudem, weil sie die unübertroffene Fähigkeit besaß, ihn aus der Fassung zu bringen. Er ging zwar
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