Hilfe! Gaby in Gefahr!
Moment ertönte leise
Klaviermusik. Chopin. Dr. Niedermacher liebte seine Platten-Sammlung.
Mindestens ein Klavierkonzert zog er sich rein, ohrenmäßig, bevor der Tag für
ihn endete.
Tim lag wach. Und grübelte.
Training und warme Milch hatten nichts genützt. Sein Unterbewußtsein spielte
ihm Streiche. Es gaukelte ihm Bilder vor, die seinen Puls rasen ließen. Gaby in
der Gewalt dieses Kerls. Gaby, wie sie irgendwo im Dunkeln vom Rad gezerrt
wurde. Gaby, wie der Unhold sie verschleppte.
Gegen 2 Uhr sah Tim zum letzten
Mal auf seinen Wecker. Dann forderte die Natur ihr Recht. Er schlief ein, aber
die Träume waren höllisch. Als er aufwachte, war es draußen noch dunkel. Doch
im Osten graute der Tag, und ein paar vorwitzige Vögel tschilpten bereits.
5.35 Uhr.
Leise stand er auf und zog sich
an.
In allen Gebäuden des Internats
war noch Stille.
Er lief die Treppe hinunter.
War die Tür des Haupthauses schon offen? Mandl, der Hausmeister, schlief nie
länger als bis 5 Uhr. Dann machte er die Runde, schloß die Haustüren auf und
sah nach dem Rechten. Meistens war er noch ungekämmt.
Tim begegnete ihm am Fuß der
Treppe, und Mandl staunte nicht schlecht.
„Willst du weg, oder kommst
du?“ scherzte er. Denn daß Tim nächtliche Ausflüge liebt, hatte sich
herumgesprochen. Freilich — erwischen ließ er sich nicht.
„Morgen, Herr Mandl. Ich fahre
mal rasch in die Stadt. Bin aber rechtzeitig zurück.“
„Die Geschäfte haben noch nicht
auf. Oder willst du deine Freundin abholen?“
„Sie treffen den Nagel auf den
Kopf.“
Tim holte sein Rennrad aus dem
Fahrradschuppen. Die Luft war kühl und klar. Er trug die neue Youngblood-Jacke,
und das war genug Outfit gegen den Fahrtwind. Tim radelte über die lange
Zubringerstraße und dann durch die Straßen der Großstadt. Um diese Zeit waren
nur die Frühaufsteher und Frühschicht-Arbeiter unterwegs. In den Außenbezirken
wurden Jalousien heraufgezogen und vor den kleinen Geschäften die Scherengitter
geöffnet. Zeitungsträger beeilten sich, und Wachmänner mit ihren Hunden kehrten
heim. An den Bushaltestellen standen morgenmuffelige Menschen, die den
Arbeitstag noch vor sich hatten — und nicht selten einstündige Anfahrten mit
Bus oder S-Bahn und abends denselben zeitraubenden Rückweg. Stadteinwärts waren
die meisten Parkplätze schon belegt, und vor den Parkhäusern bildeten sich
Schlangen. Denn inzwischen war es 6.30 Uhr. Die allgemeine Hektik begann.
Tim erreichte das
Altstadtviertel, die Fußgängerzone, dann die stille Straße zwischen
denkmalgeschützten Häusern, wo die Glockners wohnen und Gabys Mutter ihren
kleinen Feinkostladen hat.
Vor dem Haus stieg er ab. Er
wollte weder klingeln noch sich anderweitig bemerkbar machen. Er wollte nur
warten, bis Gaby herunterkam, um zur Schule zu radeln.
9. Tim irrt sich
Tim hatte einen Fuß auf die
unterste Steinstufe des Hauseingangs gesetzt, den anderen auf den
Rennradlenker. Hände in den Hosentaschen. Er rührte sich nicht. Ein Sperling
pickte am Reifen des Vorderrades. Der TKKG-Häuptling schien zu schlafen. Aber
das täuschte. Unablässig suchten seine Blicke die Straße ab. Nur die Augen
bewegten sich. Nichts entging ihnen. Der Unhold hatte den Krieg erklärt. Den
sollte er haben. Tim würde den Kerl entdecken, rechtzeitig.
Nur wenige Leute waren auf den
Beinen. Ein Jogger mit Übergewicht kam um die Ecke, schweißüberströmt, hatte
wohl im Hofgarten-Park seine Runden gedreht. Jetzt verschwand der Mann in dem
Bäckerladen drüben, der offiziell erst um acht Uhr öffnete. Aber das galt nicht
für Stammkunden. Denn der dicke Läufer kam mit einer großen Tüte zurück. Tim
vermeinte, den Duft frischer Semmeln bis hierher zu riechen.
Noch ein Blick aus den
Augenwinkeln. Dann sah er den Typ.
Tims Bauchmuskeln spannten
sich. Ein Kribbeln im Nacken. Um ruhig zu bleiben, ließ er den Atem tief in
sich hineinsinken — bis unter den Nabel.
Lächerlich, diese Aufmachung!
Wen wollte der Unhold damit täuschen?
Auf der anderen Straßenseite,
hundert Meter entfernt, lehnte der Typ in einer Einfahrt zum Hinterhof.
Schmieriger Overall, speckiger
Hut, Bartgestrüpp und Sonnenbrille. Damit hatte er sich verwandelt — aber nur
äußerlich.
Sonnenbrille — dort im
Schatten! Sonnenlicht war nur hier auf dieser Straßenseite. Tim spürte die
Sonne auf dem Rücken, denn der war nach Osten gekehrt.
Der TKKG-Häuptling setzte die
Füße auf die Pedale, fuhr eine enge Kurve und dann eilig in
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