Hill, Susan
Die Nachbarin hat angegeben, dass die Frau gestern Abend um halb sieben weggegangen ist, zu Fuß … ist die ganze Nacht nicht heimgekommen.«
Freya zog Mantel und Schal aus und warf beides auf ihren Stuhl. »Weiter.«
»Die Nachbarin hat einen Schlüssel. Ist gestern Nacht reingegangen. Alles ganz normal, nur lag Kleidung auf dem Bett, als hätte sie überlegt, was sie anziehen soll.«
»Mantel und Handtasche sind nicht da?«
»Ja, sie ist nicht nur mal schnell zum Briefkasten gegangen.«
»Heute Morgen?«
»Kein Anzeichen. Alles noch genauso wie gestern, als die Nachbarin im Haus war. Keine Nachricht oder Botschaft.«
»Angehörige?«
»Keine. Verwitwet. Keine Kinder.«
»Alter?«
»Einundsiebzig.«
»Ich brauche einen Kaffee.«
In der Kantine roch es wie immer am frühen Morgen nach gebratenem Speck, und es herrschte das übliche Stimmengewirr. Freya holte zwei Tassen Kaffee und setzte sich mit Nathan an einen Fenstertisch.
»Weiter. Ähnlichkeiten mit unseren anderen vermissten Frauen?«
Nathan rührte drei Päckchen Zucker in seine Tasse. »Die Frau war allein unterwegs. Kein ersichtlicher Grund für ihr Verschwinden. Keine Nachricht. Keine Botschaften. Keine Spuren. Wobei es noch früh ist – wir haben noch nicht alles überprüft.«
»Die Streifenpolizei muss zum Bahnhof, zum Busterminal, zu den Krankenhäusern und so. Unterschiede?«
»Sie war nicht in der Nähe des Hügels.«
»Das ist der bedeutsamste.«
»Sie war ordentlich zum Ausgehen gekleidet.«
»Das waren die anderen auch, auf ihre Art – der Mountainbiker und Angela Randall trugen Kleidung zum Radfahren und Laufen und folgten einer bekannten Routine, Debbie Parker trug Kleidung für einen Spaziergang. Ich meine, keiner von denen ist im Nachthemd und mit Lockenwicklern im Haar rausgeschlüpft.«
»Was denken Sie, Sarge?«
»Ich denke, dass wir mit dieser Nachbarin sprechen sollten – und dann hoffe ich, dass wir den DCI dazu bringen können, die Sache ernst zu nehmen und die ganze Ermittlung wieder hochzustufen, bevor noch jemand vermisst wird.«
Auf der anderen Seite der Kantine brach ein ganzer Tisch voll Uniformierter in brüllendes Gelächter aus. Freya hatte die Kameradschaft auf dem Revier immer gemocht, beobachtete gern, wie unterschiedlich die Menschen sich entspannten und die Anspannung einer schwierigen Schicht überwanden, mit Witzen, Gelächter und lärmender gegenseitiger Unterstützung. Es gab Unstimmigkeiten und Reibungen – nicht jeder kam mit allen aus, nicht jeder traute jedem, aber das war unvermeidlich an Orten, wo Menschen unter Druck eng zusammenarbeiteten, unterbrochen von Perioden der Langeweile. Wann immer es einen besonders verstörenden Fall gab – einen Mord, Kindesmissbrauch, einen schlimmen Unfall –, rückten alle zusammen, wurden Streitereien beiseite geschoben, nahmen sich alle in unausgesprochener Übereinstimmung zusammen. Die Polizeiarbeit würde unerträglich, wenn das nicht der Fall wäre, und Freya war immer dankbar dafür gewesen, sowohl in London wie jetzt auch hier.
Sie trank ihren Kaffee aus und räumte Nathans Zuckertütchen ordentlich auf.
»Gott, Sarge, das ist ja schlimmer, als wenn man eine Ehefrau hätte. Ist es das, was mir bevorsteht?«
»Habe ich richtig gehört?«
Sie schaute zu Nathan, als sie durch die Schwingtüren der Kantine hinausgingen. Sein pockennarbiges, hässlich-schönes Gesicht war knallrot.
»Hey!«
»Nein, nein, hören Sie, ich hab nichts gesagt, warten Sie … Sie haben mich nur zum Nachdenken gebracht, mehr nicht.«
»Tja, denken Sie nicht zu lange nach. Tun Sie es!«
»Weil Sie das wegen Em gesagt haben, dass ich aufpassen muss, sie nicht zu verlieren … Ich meine, ich weiß nicht, wie’s wär, wenn ich sie nicht mehr hätte. Wenn sie keine Lust mehr hat, auf mich zu warten, und einfach abhaut. Wie Sie gesagt haben.«
An ihrem Schreibtisch griff Freya nach einem leeren, sauberen Plastikbecher und ließ ein paar Münzen hineinfallen. »Na gut. Das ist ein Anfang.«
»Was?«
»Ich spare für Ihren Toaster.«
Sie nahm einen Filzstift und schrieb in großen Buchstaben NATHANS HOCHZEITSGESCHENK auf den Becher.
Er riss ihn ihr aus der Hand und wischte die Schrift mit dem Ärmel ab. »Lassen Sie das, die anderen ziehen mir die Hosen runter, wenn sie das sehen. Haben Sie doch ein Herz, Sarge.«
»Okay, aber die Uhr tickt. Jetzt kommen Sie.«
»Ich liebe diese kleinen Straßen«, sagte Freya, als sie in die Nelson Street bogen und auf
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